maagamizi
Warum das UNO-Jahr zur Sklaverei die Schweiz etwas angeht *)

von Hans Fässler, St. Gallen

Auf Antrag der UNESCO hat die UNO-Generalversammlung am 27. Februar 2003 beschlossen, das Jahr 2004 zum „Internationalen Jahr zum Gedenken an den Kampf gegen die Sklaverei und an ihre Abschaffung“ zu erklären. Die Wahl dieses Jahres war kein Zufall, sondern ein bewusster Beschluss mit grosser Symbolkraft: Vor 200 Jahren, am 1. Januar 1804, erfolgte die offizielle Proklamation der haitianischen Unabhängigkeit, nachdem das Land in einem beispiellosen Kampf die Sklaverei abgeschafft und sich vom „Mutterland“ (eine euphemistische Bezeichnung für die ausbeutende Kolonialmacht) Frankreich losgelöst hatte.

Zum zweiten Mal hat damit eine Weltorganisation die historische Bedeutung der epochalen Ereignisse anerkannt, welche nach dem Ausbruch der französischen Revolution die Karibikinsel Saint-Domingue erschütterten. 1996 schlug der Exekutivrat der UNESCO vor, den 23. August zum Internationalen Tag der Erinnerung an Sklavenhandel und dessen Abschaffung zu machen. In der Nacht vom 22. auf den 23. August 1791 fand nämlich im Caiman-Wald unter der Führung des Sklaven Boukman jene Vodoo-Zeremonie statt, welche zum Fanal für den haitanischen Sklavenaufstand wurde, der in Toussaint Louverture seinen genialen Anführer fand.


The Swiss Slavery Connection Campaign

Hätte man mich vor einigen Jahren zur Sklaverei, zu Haiti und zu Toussaint Louverture befragt - ich hätte fast nichts gewusst. Dass ich angefangen habe, mich intensiv damit zu befassen, war eigentlich ein Zufall. Weil ich bei der Erarbeitung eines Kabarettprojekts für
das 200-Jahr-Jubiläum des Kantons St. Gallen im Jahr 2003 der Gefahr der lokalpatriotischen Enge und einem gewissen Eurozentrismus entgehen wollte, tippte ich eher spielerisch auf der Suchmaschine „Google“ die Jahrzahl 1803 ein, um zu sehen, was im Gründungsjahr meines Heimatkantons sonst noch passiert sei. Bald stiess ich auf Haiti (das damals noch Saint Domingue hiess), auf die Schlacht von Vertières, in der Frankreich - 151 Jahre vor Dien-bien-Phu - seine erste grosse koloniale Niederlage einstecken musste, auf Toussaint Louverture. Und dann liess mich das Thema nicht mehr los.

Im Kabarettprogramm “Louverture stirbt 1803“, trat ich nach der Pause als Ed Fagan auf.
Ich kam etwas ausser Atem auf die Bühne und sagte, ich hätte eigentlich auf dem Marktplatz von St. Gallen, vor einem Restaurant namens NON OLET, eine Pressekonferenz abhalten wollen, sei dann aber von empörten älteren Leuten angepöbelt und mit antisemitischen Sprüchen eingedeckt worden, wie damals im Juni 2002 auf dem Paradeplatz. Darum müsste ich nun die sogenannte „Swiss Slavery Connection Campaign“ hier in einem Kleintheater ankündigen.

Wenn ich dann (mit amerikanischem Englisch und deutschen Untertiteln) davon sprach, dass sich die Schweiz nach der teilweisen Zusammenarbeit mit dem Naziregime und nach der Komplizenschaft mit der Apartheid nun einem weiteren düsteren Kapitel ihrer Geschichte stellen müsste, nämlich der Schweizer Beteiligung an Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven, reagierten die meisten Leute im Publikum mit einer Mischung aus Irritation und Unglauben.

Dann schlug ich als Jean-François Grobet (ein welscher Verlagsmitarbeiter, der als Kampagnensekretär fungiert) vor, in der Schweiz einen „Sklavereiwanderweg“ zu realisieren, welcher in Zusammenarbeit mit dem Projekt „La Route des Esclaves“ der UNESCO allen Bauten nachgehen sollte, welche teilweise mit Blutgeld aus der Sklaverei gebaut worden wären. Nun kam meist ein befreites Lachen, vor allem auch, weil die Leute nun Bilder von einem Zellweger-Palast in Trogen, den Herrschaftshäusern der Familie Gonzenbach in Hauptwil, dem Belvoir von Heinrich Escher in Zürich, dem Landsitz Berbice oberhalb des Rheinfalls und dem Hôtel de Ville in Neuchâtel sahen.

Am Schluss gingen sie ziemlich unsicher nachhause, wie ernst wohl die Sache mit der Schweizer Beteiligung an Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven gemeint war. Für viele war und ist dieser Zusammenhang so unglaublich, dass es Zeit braucht, um sich ihm anzunähern.


Bild der Schweiz mit Rissen

Mir ist es auch so gegangen. Natürlich habe ich als Sozialist, als kritischer Historiker, als GsoA-Aktivist und als AAB-Mitglied der Schweiz oder, etwas präziser gesagt, den führenden Finanz- und Wirtschaftskreisen seit jeher ziemliche „Schweinereien“, wie man damals noch sagte, zugetraut. Aber vom 18. und 19. Jahrhundert, den Zeitraum, um den es hier im wesentlichen geht, hatte ich ein völlig falsches Bild.

Das Bild einer idyllischen Schweiz, in der sich zwar die Umschichtungen und Klassenauseinandersetzungen der Industrialiserung abspielen und in der die Zeit reift für den Untergang des Ancien Régime und den Aufbruch zur Helvetik, die aber im übrigen ein ziemlich isoliertes Dasein inmitten Europas fristet und trotz Protoindustrialiserung und Aufschwung der Textilindustrie noch sehr ländlich geprägt ist.

In der Arbeit am Kabarettprogramm bekam dieses Bild erste Risse. Unter den Zehntausenden von Soldaten, welche der Erste Konsul Napoleon in die Karibik entsandt hatte, um die vom revolutionären Konvent 1794 abgeschaffte Sklaverei wieder einzuführen, waren nämlich auch 600 Schweizer dabei, unter dem Kommando eines Schaffhauser Hauptmanns namens Wipf.

Ueber den Guerilla- und Befreiungskrieg gegen die Franzosen in Spanien hatte ich gelesen, klar, und natürlich auch über den Russlandfeldzug Napoleons. Der Übergang über die Beresina und Oberleutnant Legler aus dem Glarnerland waren mir ein Begriff. Aber warum hatte mir nie jemand etwas vom SklavInnenaufstand auf Haiti erzählt und von den 600 Schweizern, welche ein ähnliches Schicksal erlitten wie ihre Landsleute in Russland und bis auf sieben den Tod fanden ? Hatten die wohl auch „Unser Leben gleicht der Reise“ gesungen in den Lazaretten, in denen das Gelbfieber wütete?


„Black Holocaust“

Unter den 600 Schweizer Soldaten, auf deren Spuren ich übrigens zuerst nicht in einem Geschichtsbuch gestossen bin, sondern auf einer haitianischen Website, welche die Schlachten des haitianischen Befreiungskriegs als Computer-Game anbot, waren auch eine Handvoll St. Galler gewesen. Daneben gab es Zürcher und Welsche und Tessiner und Appenzeller, kurz eine bunte Mischung aus Abenteurern, armen Teufeln, begeisterten Republikanern und zwangsrekrutierten Delinquenten aus der ganzen Schweiz.

Über Haiti, über die SklavInnenbefreiung, über Toussaint Louverture kann man nicht lesen, ohne in die Geschichte und die Bedeutung des sogenannten Dreieckshandels hineinzugeraten: Billige Gebrauchswaren (Textilien, Kochtöpfe), Schnaps, Gewehre und Krimskrams wurden von den europäischen SklavInnenhäfen (u.a. Liverpool, Bristol, London, Nantes, Bordeaux, Le Havre, Marseilles) nach Westafrika transportiert und dort gegen Sklavinnen und Sklaven eingetauscht. Die weibliche Form ist wichtig: Als ideale Mischung einer Schiffsladung galt ein Drittel Frauen/ zwei Drittel Männer. Dann folgte die sogenannte „Middle Passage“, die Überfahrt zu den SklavInnenmärkten in Brasilien, der nördlichen Küste Südamerikas und auf den karibischen Inseln. Dort wiederum wurden die Sklavinnen und Sklaven eingetauscht gegen die in Plantagenarbeit produzierten Kolonialprodukte Zucker, Kaffee, Baumwolle, Tabak oder Indigo.

Meines Wissens war der Berner Historiker und Seminarlehrer Daniel V. Moser der erste, welcher umfassend die Verflechtung der Schweizer Wirtschaft und der Banken mit diesem transatlantischen System dargestellt hat, welches - je nach Schätzung und Quellen - zwischen 10 und 30 Millionen Menschen aus Afrika verschleppt und in ein brutales System der Zwangsarbeit eingespeist hat. Sein Aufsatz erschien 1997 in der Schweizerischen Lehrerzeitung (deren Redaktor er damals war) und trug im Titel den polemischen Begriff, welchen die Schwarzen vor allem der USA aus Empörung über die Beschränkung der europäischen Empörung und Wiedergutmachung auf die Judenvernichtung des 20. Jahrhunderts geprägt hatten: „Die Schweiz und der schwarze Holocaust“.

Schwarze afrikanische Historiker suchen seit längeren nach einem besseren, einem authentischen Begriff für das, was selbst gemäss US-Präsident Bush, der am 9. Juli 2003 die SklavInnenfestung Gorée vor der Küste Senegals besuchte, eines der grössten Verbrechen der Mneschheitsgeschichte war. Vorgeschlagen wird etwa „maagamizi“, was sich vom Swahili-Verb „ angamiza“ herleitet und ungefähr „absichtliche Zerstörung riesigen Ausmasses“ bedeutet.


GR, AR, SG, TG, SH, ZH, BE, BS, NE, VD, GE

Angeregt durch Moser wagte ich mich an seine Hauptquelle und wohl die umfassendste Darstellung der Finanz- und Wirtschaftsbeziehungen der Schweiz mit Frankreich im 18. Jahrhundert heran: an Herbert Lüthys enzyklopädisches zweibändiges „La Banque Protestante en France - De la Révocation de l'Edit de Nantes à la Révolution“. Was ich darin nach einigen Lesenächten fand, war gerade für mich als St.Galler unglaublich: Meine Heimatstadt war offenbar nach Genf die am engsten mit Frankreich und damit auch mit dem Kolonial- und SklavInnenhandelssystem verflochtene Stadt der Schweiz. Da stand es, wie oft bei Lüthy, der sich nicht für Kolonialismus oder Sklaverei interessiert hatte und sich darüber nicht empören mochte, in einer Fussnote: Mitglieder der St. Galler Familien Rietmann, Högger und Schlumpf besassen in Surinam Plantagen samt den dazu gehörigen Sklavinnen und Sklaven und vererbten sich diese gegenseitig „avec tous les fonds, fruits, esclaves, meubles, ustenciles, bestiaux, etc.“

Immer wieder hatte ich in den folgenden Monaten das Bedürfnis, Freunden, politischen WeggefährtInnen und linken Historikern von meinen Funden zu erzählen. Ich hatte es ja auch schon erlebt, dass man sich in ein Thema verrennt, dass man blind wird für die Dimensionen, dass man anfängt, Quellen überzubewerten oder nach einer vorgefassten historischen These sich zurechtzubiegen. Aber es schien, so sagten sie jeweils vorsichtig, wirklich etwas dran zu sein, und übrigens gäbe es da einen Aufsatz.... und ich solle doch mal in jener Bibliothek nachfragen ... und da sei doch schon in jenem Kapitel .....

Ende 2002 hatte ich genug Material zusammen, um in der Standardeinleitung, welche ich allen Kontaktleuten in den Kantonen für ihre jeweiligen parlamentarischen Vorstösse empfahl, zu formulieren: „Es finden sich in praktisch allen relevanten Tätigkeiten des Handels mit Sklavinnen und Sklaven schweizerische Akteure: vom Gründer einer Sklavenhandelsburg vor der Küste Afrikas über den Reeder, Financier, Versicherer und Aktienbesitzer von SklavInnenschiffen bis hin zum Besitzer oder Aufseher von Plantagen, zum Offizier und Soldaten im Kampf gegen revoltierende Sklavinnen und Sklaven und schliesslich zum Kaufmann im Geschäft mit Gütern für den Dreieckshandel (Textilien) und Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Baumwolle, Indigo).“

In jedem Kanton gibt es eine andere Geschichte zu erzählen. Nehmen wir einmal nur die Ostschweiz: Herr Conrad aus Graubünden, ein stiller redlicher und sehr verständiger Mann, ist schon 16 Jahren in Surinam und seit etwa vier Jahren Direktor und Administrator auf der Plantage Mara, welche 160 SklavInnen hat, einmal ganz ruiniert gewesen ist und nun aber mehr als 100'000 Pfund Kaffee produzieren wird. Die St. Galler Handelshäuser Kunkler und Zollikofer, welche sich in Frankreich Councler und Sollicoffre nennen, betreiben via Marseille im grossen Stil Geschäfte mit der Levante und Afrika für holländische und englische Partner. Johannes Tobler aus Rehetobel, Begründer des Appenzeller Kalenders und Ausserrhoder Regierungsrat, wird in der amerikanischen Kolonie Carolina zum SklavInnenhalter. Er besitze, so schreibt er, „ Handelswaren, Knechte, Mägde, Neger, Ross und Vieh.“ Die Bank Tourton & Baur ist mit der Familie Gyger aus dem thurgauischen Bürglen verbunden und gründet 1748 eine “Société pour le commerce de la traite des nègres à la côte d'Angola et de là aux îles de Saint-Domingue“. Ein Schaffhauser wird in Surinam Plantagenleiter, lässt sich mit den Profiten daraus hoch über dem Rheinfall einen Landsitz bauen. Später gelangt er in den Schaffhauser Kleinen Rat und sein Sohn wird später sogar Bürgermeister und Regierungspräsident von Schaffhausen.


Zweierlei Schweizer

„Wie kann man ohne Empörung der Erniedrigung der Menschen zusehen, die man hier beschäftigt, ihrem Leiden, ihrem äussersten Elend ? Wie kann man ihre gewaltigen Ketten ansehen, welche sie für die geringsten Vergehen hinter sich nachschleppen, als wäre ihr Tagwerk nicht schon erdrückend genug ? Wie die mit langen Zacken gespickten Eisenhalsbänder, welche man den Negerinnen anlegt, die man verdächtigt, ihr Kind abtreiben zu wollen, und welche sie Tag und Nacht nicht ablegen können, bis sie ihrem Herrn ein Kind geboren haben, als ob es nicht der Meister wäre, den man bestrafen müsste, angesichts der Tatsache, dass die Sklaven Angst haben, ihre Gattung fortzupflanzen!“

Der Mann, der das schreibt, heisst Girod de Chantrans. Auch er ist Schweizer. Er hat 1781-83 die Antillen bereist und sich auch auf Saint-Domingue umgesehen. Seine Empörung liess ihn ein Buch schreiben über das Schreckliche, das er gesehen hatte: „Voyage d'un Suisse dans différentes colonies d'Amérique“. Das Buch ist 1785 in Neuchâtel herausgekommen, wurde ins Deutsche übersetzt und war ein grosser Erfolg. Dass sich Schweizer auch für die SklavInnen und Sklaven und für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt haben, soll hier abschliessend erwähnt werden. Aber die Geschichte dieses Engagements sollen die schreiben, die bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit das Hohe Lied von der humanitären Schweiz singen. Mich interessiert im Moment und wohl für längere Zeit jene andere Schweiz, von der bisher nur wenige wissen: die Schweiz, welche sich genau wie die grossen Kolonialmächte an der Ausblutung des afrikanischen Kontinents und der grausamen Ausbeutung von Millionen von schwarzen Arbeitssklavinnen und -sklaven bereichert hat.


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*) Der Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrags für die Finanzplatz-Nachrichten (2/2003 Juni). Hans Fässler (50) ist Lehrer für Englisch und Geschichte an der Kantonsschule Trogen (AR), Vater von zwei Söhnen und Hausmann. Er ist im VPOD organisiert, war 1984-1994 SP-Mitglied des Grossen Rates des Kantons St.Gallen und 1986-1993 SP-Sekretär. Er ist dabei, ein Buch über die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei zu schreiben, welches 2006 im Rotpunkt-Verlag herauskommen soll. Materialien zu Kabarettprogramm und Buchprojekt finden sich unter www.louverture.ch.