MENSCHENUNRECHTE FORDERN WIEDERGUTMACHUNG

Beitrag zum ökumenischen Gastgottesdienst vom 12. März 2006 um 10.00 Uhr in der Reformierten Kirche Speicher zusammen mit Pfarrerin Doris Brodbeck

von Hans Fässler, St.Gallen

1. Teil

Liebe Kirchgemeinde

Vor drei Jahren hiess das Motto der Fastenopfer-Brot-für-alle-Kampagne "Einander zuhören, um einander zu verstehen". Am 9. März 2003 hielt Pfarrer Théo Buss in der grossen romanischen Stiftskirche von Neuenburg eine Predigt, die von Radio DRS übertragen wurde. Er sprach darin von Neuenburger Familien, die sich an der Sklaverei bereichert hatten, und löste damit einen mittleren Skandal aus. Ich war damals schon einige Jahre mit diesem Thema beschäftigt und telefonierte ihm, weil ich ihn kennen lernen wollte und weil ich mir Sorgen um sein Wohlergehen machte. Wir sind seither Freunde geworden, und, obwohl er nun in Nicaragua lebt und arbeitet, fühle ich mich ihm heute sehr nah.

Vor zwei Jahren hiess das Motto der Fastenopfer-Brot-für-alle-Kampagne "Wir glauben. An sichere Lebensgrundlagen". Ein Projekt, für das damals gesammelt wurde, war die Unterstützung einer Bauernorganisation auf Haiti, welches der von Entwaldung und Erosion beeinträchtigen Landwirtschaft wieder auf die Beine helfen soll. Wenn es ein Land gibt das gewissermassen als ewiges Mahnmal an die Opfer von Völkermord, Sklaverei und Ausbeutung dasteht, dann ist es Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.

Vergangenes Jahr hiess das Motto der Fastenopfer-Brot-für-alle-Kampagne "Wir glauben. Gewalt hat nicht das letzte Wort." Am 1. März 2005 sprach im Rahmen dieser Kampagne die südafrikanische Juristin Yasmin Sooka im Pfarreizentrum Stofel in Teufen über die Apartheidschulden. Ich hatte die Juristin, die auch Mitglied der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission gewesen war, bereits in Genf reden gehört, und von ihrem Auftritt in Teufen ist mir nebst ihrer freundlichen Unerschrockenheit und intellektuellen Brillanz vor allem ein Gedicht geblieben. Es stammt von der afroamerikanischen Dichterin Maya Angelou, und darin heisst es: "History, despite its wrenching pain / Cannot be unlived, and if faced with courage / Need not be lived again." (Die Geschichte, trotz ihrer Schmerzen und Verrenkungen/ Kann nicht rückgängig gemacht werden, und wenn sie mit Mut angegangen wird/ Braucht sie nicht noch einmal durchlebt zu werden.) Auch Yasmin Sooka löste mit ihrer Forderung nach Entschädigung der Apartheid-Opfer von Menschenrechtsverletzungen durch die daran beteiligten grossen Firmen, Banken und Konzerne ein intensives Nachdenken aus.

Wenn ich heute unter dem diesjährigen Motto "Wir glauben. Menschenrechte fordern Einsatz" zu ihnen sprechen darf, fühle ich mich Théo Buss, dem haitianischen Volk und Yasmin Sooka sehr verbunden. "Menschenrechte fordern Einsatz" ist ein zukunftsgerichteter Gedanke. Erlauben Sie mir trotzdem, in meinen Ausführungen zuerst etwas zurückzuschauen auf jenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das mich nun seit rund fünf Jahren intensiv beschäftigt. Die Sklaverei war ja nicht, wie ich selbst auch lange geglaubt habe, das Einfangen von schwarzen Eingeborenen durch irgendwelche wild gewordenen Menschenhändler. Sie war nicht einfach die Brutalität von Peitschen schwingenden Aufsehern auf endlosen Baumwollfeldern. Sie war kein Betriebsunfall der europäischen Geschichte. Sie hatte System.

Sie war ein ausgeklügeltes wirtschaftliches Geflecht, das drei Kontinente umfasste und über 400 Jahre lang Menschen in die Neuen Welt und Güter und Profite nach Europa fliessen liess. Sie war eine Maschine, die aus der Zwangsdeportation von 15 Millionen afrikanischen Männern, Frauen und Kindern Geld machte. Geld, das bis in die Schweiz floss, nach Neuenburg, nach Basel, ins Zürcher Oberland, nach Schaffhausen und bis ins Appenzellerland.

Und sie hatte differenzierte juristische Grundlagen. Sklaverei brauchte Menschenunrechte. Der französische Code Noir regelte von 1685 bis 1848 in den französischen Kolonien das Verhältnis zwischen den weissen Herren und den schwarzen Sklavinnen und Sklaven. Diese waren keine Menschen, sondern Meubles, also bewegliche Güter. In den englischen Kolonien war der Barbados Slave Code von 1661 das Modell für die folgenden Menschenunrechte. In South Carolina galt von 1740 bis 1865 der Negro Act. Im spanischen Kolonialreich gab es Sklavengesetze, ebenso im portugiesischen und holländischen und auch im unabhängigen Brasilien bis 1888.

1888. Ist das lange her? Ich habe einen Freund und Lehrerkollegen, der mit einer Brasilianerin verheiratet ist. "Meine Grossmutter", hat sie mir bei einem langen Nachtessen erzählt, "ist als Sklavin auf die Welt gekommen." Und einen ganzen Abend lang hat sie mir aus der mündlichen Überlieferung in ihrer Familie von der Sklaverei erzählt, derart detailliert, derart intensiv und lebendig, dass ich glaubte, es sei eben gerade passiert. Und wenn - gemäss Psalm 90 - 1000 Jahre sind wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache, was sind dann 100 Jahre? Eine Stunde? Ein Augenblick? Ein Flügelschlag? Der amerikanische Romancier William Faulkner hat es so gesagt: "The past is not dead. In fact, it's not even past." (Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist eigentlich nicht einmal vergangen.)

Und mit der Abschaffung der Sklavereigesetze war es ja mit den Menschenunrechten noch längst nicht vorbei. Die Jim Crow Laws, welche in den USA nach der Abschaffung der Sklaverei von 1865 die Schwarzen bis in die 1960er-Jahre diskriminierten, also bis Rosa Parks sich weigerte, in einem Bus einem Weissen Platz zu machen; die Nürnberger Rassengesetze, welche 1935 Eheschließungen zwischen Nicht-Juden und Juden sowie den außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen ihnen verboten; der Mixed Marriages Act und der Immorality Amendment Act von 1949/1950, welche im Südafrika der Apartheid dasselbe unter Strafe stellten wie die Nazis in Nürnberg; die übrigen Apartheidgesetze, welche am Kap ohne Hoffnung den Schwarzen bis zum Beginn der 1990er-Jahre per Gesetz die menschliche Würde absprachen - sie alle waren entfernte Verwandte und Nachkommen jenes Code Noir, den der französische Sonnenkönig Ludwig XIV., "par la grâce de Dieu roi de France" (durch die Gnade Gottes König von Frankreich), 1685 erlassen hatte.

Die Sklaverei brauchte Menschenunrechte. Und die Sklaverei brauchte ihre Unrechtsgelehrten. Wie zum Beispiel den berühmten Berner Politiker Carl Ludwig von Haller. Im Jahre 1818, als schon acht Millionen Menschen als Sklavinnen und Sklaven über den Atlantik verschifft worden sind und in dem weitere 60 000 dasselbe Schicksal erleiden, erklärt der berühmte Berner Staatsrechtler, die Sklaverei sei weder unmoralisch noch unrecht, weder abscheulich noch verbrecherisch, sondern vernünftig. Bezüglich der in Sklaverei geborenen Kinder hält der europaweit geachtete und viel gelesene Publizist fest:

"Die in der Sklaverey erzeugten Kinder waren natürlicher Weise der nämlichen Knechtschaft unterworfen, theils weil sie bereits wirklich in der Gewalt des Herren sind und denselben zu ihrem Lebens-Unterhalt durchaus nicht entbehren können, theils weil sie nicht wären geboren worden, wenn man den Vätern das Leben nicht gelassen hätte, und endlich weil sie alle ihre Bedürfnisse, Nahrung, Wohnung, Kleidung und Unterricht nur allein von dem Herrn erhalten. In ihrem erwachsenen Alter ist es billig, dass sie die Kosten ersetzen oder durch Arbeit abverdienen, die man auf ihre Erziehung verwendet hat, und dieser stillschweigende Vertrag ist so natürlich, dass wenn das Kind ihn hätte schliessen können, es denselben gewiss würde geschlossen haben, mithin sein Wille vorweggenommen werden kann."

In der Mitte des 18. Jahrhunderts hat einer dieses Menschenunrecht nicht mehr mit ansehen können. Man sagt, John Newton, Kapitän eines englischen Sklavenschiffes, sei 1748 auf der Rückreise von Afrika in einen Sturm geraten, welcher für ihn zu einem ähnlichen Schlüsselerlebnis wurde, wie das Gewitter bei Erfurt für Martin Luther. Er versuchte danach, seine Sklaven besser zu behandeln, als es zu jener Zeit üblich war, heiratete und gab einige Jahren später den Sklavenhandel ganz auf. John Newton wurde anglikanischer Pfarrer, wurde zu einem mitreissenden Prediger, der auch den grossen Sklavereigegner William Wilberforce beeinflusst haben soll, und schrieb zwischen 1760 und 1770 die berühmte Hymne Amazing Grace. Ich habe dieses Lied lange für ein etwas kitschiges amerikanisches Kirchenlied gehalten, aber jetzt hat Text für mich eine neue Bedeutung bekommen:

1 Oh wunderbare Gnade! Wie schön ist der Klang, der ein Wrack wie mich rettete. Ich war einst verloren, aber jetzt bin ich wohl aufgehoben. Ich war blind, aber jetzt kann ich sehen.

2 Es war die Gnade, die meinem Herz das Fürchten lehrte, und es war die Gnade, die mich von der Furcht befreite. Wie kostbar erschien mir diese Gnade in jener Stunde, als ich zu glauben anfing.

3 Durch viele Gefahren, Mühen und Fallen bin ich schon gegangen. Es ist die Gnade, die mich sicher so weit gebracht hat, und die Gnade, die mich nachhause geleiten wird.

Sie finden den englischen Text dieses Liedes auf ihrem Bänken. Die Orgel wird mit einem Vorspiel einleiten und Ihnen die Melodie vorstellen. Dann werden wir sie gemeinsam singen.

1 Amazing grace! How sweet the sound / That saved a wretch like me!_/ I once was lost, but now am found;_/ Was blind, but now I see.
2 'Twas grace that taught my heart to fear,_n/ Andd grace my fears relieved;_/ How precious did that grace appear/ _The hour I first believed!
3 Through many dangers, toils and snares,/ I have already come;_/ 'Tis grace hath brought me safe thus far,/ _And grace will lead me home.



2. Teil

Liebe Gemeinde

John Newton, Kapitän eines Sklavenschiffs nach Sierra Leone, Gezeitenvermesser im Sklavenhandelshafen Liverpool, Pfarrer in der kleinen Ortschaft Olney in Buckinghamshire, Dichter von Amazing Grace war nicht der einzige, der sich empört hat über das Menschheitsunrecht der Sklaverei. Viele sind namenlos geblieben wie die Pariserinnen und Pariser, welche sich während der französischen Revolution weigerten, Kaffe und Zucker zu konsumieren, weil daran das Blut ihrer schwarzen Brüder und Schwestern in den Kolonien klebte. Andere kennen wir, wie den Liverpooler Schiffseigner und Kaufmann William Rathbone, welcher es in den 1780er-Jahren aus moralischen Gründen ablehnte, Holz zum Bau von Schiffen zu liefern, die für Sklaventransporte verwendet werden sollten.

"Menschenunrechte brauchen Wiedergutmachung" habe ich als Titel für meine heutigen Betrachtungen gewählt. Aber wie kann man ein Unrecht wiedergutmachen? Wie kann man Wunden heilen? Wie kann man Versöhnung herbeiführen? Ich war in den 1990er-Jahren an den Bemühungen für die Rehabilitierung des St.Galler Flüchtlingsretters Paul Grüninger beteiligt und glaube, aus dieser Arbeit gelernt zu haben, was für Schritte es dazu braucht.

Es braucht zuerst einmal, gemeinsam mit den vom Unrecht Betroffenen oder ihren Nachfahren, die Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Einrichtung, welche in Südafrika versucht hat die Wunden der Apartheid zu heilen, hiess eben nicht einfach "Versöhnungskommission", sondern "Wahrheits- und Versöhnungskommission". Der Sankofa-Vogel aus Zentralghana ist ein Zugvogel, wird aber immer mit rückwärtsgewandtem Kopf dargestellt, was beim dortigen Volk der Akan symbolisiert, dass man eben zurückschauen muss, um erfolgreich in die Zukunft zu gehen.

Als zweiten Schritt braucht es seitens derjenigen, welche das Unrecht begangen haben oder seitens der Nachkommen, welche davon profitiert haben, eine Schuldanerkennung, eine Entschuldigung, eine Übernahme der Verantwortung. Wer von uns hat nicht schon erlebt, wie erleichternd und befreiend in einem persönlichen Konflikt das Wörtchen "Äxgüsi!" oder "Sorry!" oder der Satz "Es tut mir leid!" wirken kann. Nur ist es in einem Konflikt mit der Dimension der transatlantischen Sklaverei natürlich ungleich schwieriger, die richtige Form, den richtigen Absender und den richtigen Adressaten zu finden. Das wird noch viel Gedankenarbeit benötigen, aber ich habe zum Beispiel in Haiti festgestellt, dass oft schon einfache Gesten eine ermutigend grosse Wirkung entfalten könne. Ich konnte als Teilnehmer einer Konferenz über Sklaverei und Wiedergutmachung in Port-au-Prince auch an einer Podiumsdiskussion in einem Gymnasium vor einigen Hundert Schülerinnen und Schülern mitmachen. Ich spürte, dass für diese Jugendlichen, Nachfahren von Sklavinnen und Sklaven in einem der ärmsten Länder der Welt, allein schon die Anwesenheit eines weissen Europäers in diesem Zusammenhang eine ganz wichtige Botschaft darstellte.

Es ist übrigens gerade einen Monat her, dass die Generalsynode der Anglikanische Kirche eingestanden hat, sich an der Sklaverei beteiligt zu haben, und den Nachfahren der Sklaven ihre Entschuldigung angeboten hat. Der Erzbischof von Canterbury, Dr. Rowan Williams, forderte die ganze Kirche auf, die Schande und Sünde ihrer Vorgänger anzuerkennen.

Der dritte Schritt in diesem Versöhnungsprozess wird noch schwieriger zu gehen sein als die ersten zwei zusammen. Wer soll an wen wie viel und welche Art von Wiedergutmachung leisten? Das sind ungeheuer grosse, komplexe und schmerzhafte Fragen. Diskussionen darüber werden meist sehr rasch emotional und heftig. Trotzdem glaube ich fest, dass dieser Schritt gemacht werden muss, und dass er eines Tages gemacht werden wird.

Ich möchte Ihnen zum Schluss noch eine Geschichte aus Haiti erzählen, die mich sehr bewegt und optimistisch gestimmt hat. Ich hatte im November 2003 Gelegenheit, auf Einladung der Schweizer Entwicklungsarbeiterin Paola Iten eine französischsprachige Kurzversion meines Kabarett-Programms für Bauernvertreter aus Lateinamerika, Afrika und der Karibik zu spielen. Das war im Hotel Montana, hoch über der Hauptstadt Port-au-Prince, und es ging dabei eben um die Schweizer Beziehungen zur Sklaverei, um Schweizer Investoren, die in Sklavenschiffe nach Haiti investiert hatten, um Schweizer Kaufleute, die auf Haiti und mit Haiti Geschäfte gemacht und um Schweizer Soldaten, die auf Haiti für die Wiedereinführung der Sklaverei gekämpft hatten.

Nach dem Programm meldete sich ein haitianischer Bauernvertreter zu Wort. Verlangte er Wiedergutmachung von Europa oder der Schweiz? Beklagte er sich über zu wenige Mittel aus der Entwicklungszusammenarbeit? Kritisierte er die Arroganz der französischen Regierung im Umgang mit der verlangten Rückerstattung der haitianischen Unabhängigkeitsschuld? Schilderte er das ländliche Elend, in dem er und seine Familie seit Jahrzehnten leben müssen? Nein. Statt dessen fragte er mich, ob ich eine Ahnung hätte wer Sonthonax und Wilberforce gewesen seien. Aus meiner Arbeit wusste ich, dass ersterer als französischer Kommissar zur Zeit der Revolution 1793 auf Haiti die Sklaverei für abgeschafft erklärt hatte, und dass der letztere zur gleichen Zeit der Anführer der Anti-Sklaverei-Bewegung im englischen Parlament gewesen war. Als ich die Frage bejahte, erklärte mir der Fragesteller, sie, die Mitglieder diese ländlichen Bauernkooperative, möchten gerne wissen, ob diese beiden europäischen Sklavereigegner Nachkommen hätten. Bei denen möchten sie sich nämlich einmal bedanken für das, was ihre Vorfahren für die Abschaffung der Sklaverei getan hätten. Ich versprach ihm, dem einmal nachzugehen. Bis heute habe ich es noch nicht herausgefunden, und wenn ich diese Aufgabe auf meiner Pendenzenliste sehe, wo sie immer noch steht, so habe ich gleichzeitig ein schlechtes Gewissen und ein Gefühl der Zuversicht über den Atlantik hinweg.