Koloniale und postkoloniale Zufälle

von Hans Fässler, Historiker und Kabarettist, St.Gallen

Wer sich mit der Geschichte der Sklaverei befasst, muss lernen, in Sprüngen zu denken. Muss versuchen, von Kontinent zu Kontinent zu hüpfen und von Epoche zu Epoche. Muss immer wieder mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen fertig werden und mit der Normalität des Ungeheuerlichen. Edouard Glisssant hat in seinem "Traité du Monde" ein antillanisches Sprichwort angeführt: "An nèg sé an sièk" (Ein Neger ist ein Jahrhundert). Langsam beginne ich, es zu begreifen.

Vergangenen 7. April bin ich zum vierten Mal nach Pontarlier im Departement Haut Doubs gefahren, um an der jährlichen "Pilgerfahrt" zur Todeszelle von Toussaint Louverture (1743-1803) auf dem Fort de Joux teilzunehmen. Vom haitianischen Sklaven, Kutscher, Revolutionär, Sklavenbefreier, General, Staatsmann und Märtyrer hatte ich bis vor wenigen Jahren nichts gewusst als jene erste Zeile aus einem Sonett des englischen Romantikers Wordsworth: "Toussaint! Most unhappy man of men!"

Im Festsaal des Stadthauses von Pontarlier hat der Bürgermeister an diesem 7. April, dem Todestag von Toussaint Louverture, eine bunt gemischte Gesellschaft empfangen. Der ganze Stadtrat dieser politisch ziemlich konservativen Provinzstadt war da, begleitet von einer Vertreterin der Sous-Préfecture mit martinikanischen Wurzeln. Da waren die Vertreter der "Société d'Histoire et de Géographie d'Haïti", Haitianerinnen und Haitianer meist im französischen Exil lebend, welche jedes Jahr beim Denkmal für Toussaint Louverture Blumen niederlegen. Ihr Chef hat hinter vorgehaltener Hand erwähnt, Jeb Bush, Gouverneur von Florida, wolle bald auch an dieser Pilgerfahrt teilnehmen, natürlich um sich die Stimmen der zahlreichen Amerikaner mit haitianischen Wurzeln zu sichern. Da ist die haitianische Schriftstellerin, welche über das einigende Band der französischen Sprache referiert und dem Bürgermeister ihr Buch Les beautés noires de Baudelaire überreicht. Und das ist die Martinikanerin, welche in ihrem Handtäschchen immer den "Code Noir", das französische Sklavereigesetz von 1685, mitträgt und daraus zitiert: "Was bin ich? Ein 'meuble' - ein beweglicher Gegenstand!"

Wichtigster Gast scheint die permanente Vertreterin Haitis bei der UNESCO in Paris zu sein, ein vornehme Diplomatin mit vorsichtig abwägender Wortwahl, welche in ihrem Referat auf die "Route des Esclaves" verweist. Dieses Projekt unter der Schirmherrschaft von Staatspräsident Chirac will das Gedenken an die Abschaffung der Sklaverei an drei Orten pflegen: In Fessenheim im Elsass, dem Geburtsort von Victor Schoelcher, welcher 1848 in Frankreich zum zweiten Mal die Abschaffung der Sklaverei durchsetzte; in Champagney, einem kleinen Dorf der Franche-Comté, welche 1789 im Vorfeld der französischen Revolution in den so genannten "Cahiers de Doléances" den Wunsch nach der Abschaffung der Sklaverei formulierten; und auf dem Fort de Joux.

Die kleine Schweizer Delegation im Festsaal des Stadthauses besteht aus Vertretern und Vertreterinnen des CRAN (Carrefour de reflexion et d'action contre le racisme anti-noir), deren Sprecherin die Bedeutung des Kampfes gegen den Rassismus in unserer heutigen Gesellschaft betont, aus zwei Gymnasiasten aus dem appenzellischen Trogen, meinem 18-jährigen Sohn und mir. In meiner kurzen Ansprache übe ich mich im Springen von Kontinent zu Kontinent und von Jahrhundert zu Jahrhundert: Die gewaltigen Bürgerpaläste der Familie Zellweger in Trogen, wo ich Englisch und Geschichte unterrichte, seien hauptsächlich mit dem Reichtum aus dem Baumwollhandel und der Baumwollverarbeitung gebaut worden. In den Briefkopierbüchern und Buchhaltungsunterlagen im Staatsarchiv fänden sich die Hinweise, woher diese Baumwolle stammte: "Coton de l'Amérique", "Coton de Cayenne" und "Coton de Saint-Domingue". Baumwolle aus Sklavereiproduktion in der neuen Welt, aus den französischen Kolonien Guyana und Haiti, habe den Reichtum bis nach Europa, bis ins Appenzellerland getragen.

Vor zwei Wochen hat ein befreundeter Historiker im Nationalrat, der grossen Kammer des schweizerischen Parlaments, auf meine Initiative einen Vorstoss eingereicht, welcher eine knappe und nüchterne Zusammenfassung jener historisch-politischen Debatte darstellt, die Ende der Neunzigerjahre in der Schweiz begonnen und seither an Breite und Tiefe zugenommen hat. Er enthält auch den unvermeidlichen Bezug auf Haiti, das historische und emotionale Epizentrum im "schwarzen Atlantik".

Der Text der von 40 Parlamentarierinnen und Parlamentariern aus dem rot-grünen Lager unterzeichneten Interpellation lautet:

"Im 17.-19. Jahrhundert haben sich eidgenössische Kaufleute, Militärs und Wissenschafter an allen sklavereirelevanten Aktivitäten beteiligt: Finanzanlagen in Kolonialgesellschaften, Beteiligungen an Dreieckshandelsexpeditionen, Handel mit Sklavereiprodukten, Sklavenhandel, Sklavenbesitz sowie militärische und ideologische Absicherung der Sklaverei. Schätzungen weisen darauf hin, dass mit Schweizer Beteiligung über 100'000 Sklavinnen und Sklaven verschleppt und auf Plantagen ausgebeutet wurden. Damit lag der schweizerische Anteil an der Sklaverei, auf Grösse und Bevölkerungszahl umgerechnet, durchaus im europäischen Durchschnitt. Zudem machen die drei Publikationen deutlich, dass es nicht nur Private waren, welche sich an der Sklaverei beteiligten, sondern in Einzelfällen (BE, SO, ZH) auch staatliche oder halbstaatliche Körperschaften.

Seit 2005 liegen drei Werke vor, welche erlauben, eine erste Bilanz über Schweizer Beziehungen zur transatlantischen Sklaverei zu ziehen: "Stettler et al., Baumwolle, Sklaven und Kredite: die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit (1789-1815)"; David et al., "La Suisse et l'esclavage des noirs" sowie Fässler, "Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine mit der Sklaverei". Diese Publikationen machen deutlich, dass die schweizerische Beteiligung grösser gewesen ist als angenommen.

Ich stelle deshalb dem Bundesrat die folgenden Fragen:

1) Ist er angesichts des Ausmasses der schweizerischen Beteiligung an der Sklaverei bereit, daraus bezüglich Aufarbeitung und Wiedergutmachung Schlüsse zu ziehen, die über die Antwort auf die Interpellation Hollenstein vom 16. Juni 2003 hinausgehen?

2) Inwiefern hat die Schweiz in der UNO-Menschenrechtskommission ihre vermittelnde Rolle zwischen afrikanischen Staaten und ehemaligen Kolonialmächten bisher wahrgenommen?

3) Ist die Schweiz bereit, im UNO-Menschenrechtsrat, dessen Arbeitsgruppen oder in einem anderen geeigneten UNO-Gremium eine Initiative zu ergreifen, welche die Aufarbeitung der kolonialen und der Sklavereivergangenheit Europas in Zusammenarbeit mit den Nachfahren der Opfer anstrebt?

4) Ist die Schweiz bereit, sich gegenüber Frankreich dafür einzusetzen, dass Verhandlungen über die berechtigte Forderung Haitis nach Restitution der 90 Millionen Goldfrancs, welche der Sklavenkolonie nach ihrer Unabhängigkeit 1825 abgepresst wurden, aufgenommen werden?"


Wenn ich öffentliche Lesungen aus meinem Buch durchführe, über die Schweiz und ihre Mitbeteiligung an der Sklaverei referiere oder an einem Anlass wie demjenigen in Pontarlier bei Weisswein und regionalen Spezialitäten mit Leuten diskutiere, werde ich immer wieder gefragt, wie ich denn auf dieses Thema gestossen sei. Bis heute habe ich darauf jeweils etwa diese Geschichte erzählt: Wie ich für das 200-jährige Bestehen meines Heimatkantons St.Gallen im Jahre 2003 ein kritisches Kabarettprogramm machen wollte, wie ich Angst bekam vor der provinziellen Enge, wie ich nach einen Ereignis für 1803 suchte, das völlig unsanktgallisch und unschweizerisch sei, wie ich bei GOOGLE den Suchbegriff "1803" eintippte und auf den haitianischen Aufstand stiess, auf Toussaint Louverture und auf die Spuren jener 600 Schweizer Soldaten, die 1803 im Auftrag Napoleons die Sklaverei wiedereinführen wollten. Und wie ich mit der grünen Nationalrätin Pia Hollenstein eine erste Interpellation zu diesem Thema vorbereitete.

Aber je länger ich es mir überlege, desto mehr denke ich, dass es kein Zufall gewesen sein kann. Die Zeit war einfach reif für dieses Thema. Die Denkblockaden des Kalten Krieges waren in den 90er-Jahren endgültig weggefallen, und hinter oder unter dem alles dominierenden und für meine Generation ewig scheinenden Ost-West-Konflikt kamen die viel älteren, viel wichtigeren Nord-Süd-Konflikte hervor. Die schwarzen Intellektuellen, die afrikanischen Historiker und die Basisbewegungen hatten längst von jener "Unbroken chain" aus Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus und Imperialismus gesprochen, aber plötzlich begann man, ihre Stimmen zu hören. Mit der Erklärung der französischen Nationalversammlung, dass Sklaverei und Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen seien (1998) und mit der Schlusserklärung der UNO-Konferenz von Durban (2001) wurden entscheidende Durchbrüche erzielt.

In der Schweiz waren in den 90er-Jahren wichtige Aufsätze zur Sklavereivergangenheit von Basel, Neuenburg und Genf erschienen. 1997, just als die "Holocaust-Debatte" in der Schweiz ihren Höhepunkt erreichte, veröffentlichte Daniel Moser in der Schweizerischen Lehrerinnen- und Lehrerzeitung unter dem Titel "Schweizer Banken und der >Black Holocaust<" einen unscheinbaren Text, der jedoch alle wesentlichen Ansätze und Themen enthielt, welche die kommende Debatte prägen sollten. Er führte nicht nur die wichtigsten Arten der Schweizer Beteiligung an der Sklaverei auf, sondern stellte sich auch in den aktuellen Kontext der internationalen und vor allem US-amerikanischen Debatte um Wiedergutmachung. Fünf Jahre vor der Rassismus-Konferenz von Durban und sieben Jahre vor der Veröffentlichung des aufrüttelnden Buches der schwarzen und indianischen Kolumbianerin Rosa Amelia Plumelle-Uribe Weisse Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis (erschienen im Rotpunkt-Verlag) formulierte der weisse, schweizerische Berner Seminarlehrer:

"Die Gefangenenverliese in den Festungen an der westafrikanischen Küste erinnern in ähnlicher Weise wie die Überreste von Auschwitz an Verbrechen gegen die Menschheit; die Sklavenarbeit auf den Zuckerplantagen der >Neuen Welt< ist vergleichbar mit der Zwangsarbeit der KZ-Häftlinge."

Ich hatte Mosers Artikel "zufällig" herausgerissen und auf jenen Stapel von Texten, Kopien, Artikeln gelegt, die man alle einmal noch lesen will, wenn einmal genug Zeit hat. Als ich ihn dann unter dem Einfluss der haitianischen Geschichte wieder hervorzog und am Thema zu arbeiten begann, stiess ich "zufällig" auf die Arbeit jener Westschweizer Historiker um Bouda Etemad und auf die Basler um Robert Labhardt, welche schon länger an ihren Büchern arbeiteten. Unsere Beiträge erschienen dann "zufällig" in rascher Folge: 2004 dasjenige der Basler über die Sklavereigeschäfte der Familie Burckhardt, im Frühjahr 2005 das Übersichtswerk der Westschweizer und im Herbst mein "Pamphlet" (die NZZ) mit den 19 Schweizer Ortsterminen in Sachen Sklaverei.

Das Thema der schweizerischen und europäischen Beteiligung und damit Mitverantwortung an der transatlantischen Sklaverei und deren Folgen wird - davon bin ich fest überzeugt - ein Thema bleiben. Die Debatten werden zunehmen und sich ausbreiten, nicht zuletzt dank Zufällen, die gar keine Zufälle sind.

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Quellen
- Edouard GLISSANT, Traité sur le Monde, deutsch: Traktat über die Welt, Heidelberg 1999
- William WORDSWORTH, "To Toussaint Louverture", in: The poetical works of William Wordsworth, Oxford 1940-1949, vol. 4, "Sonnets dedicated to liberty"
- Elvire MOUROUARD, Les beautés noires de Baudelaire, Paris 2005
- Interpellation Josef LANG (Grüne/SGA, Zug) auf Deutsch, Französisch und Italienisch unter: http://www.parlament.ch/afs/data/d/gesch/2006/d_gesch_20063070.htm
- Weitere parlamentarische Vorstösse zum Thema (Bund, Kantone, Städte) unter: http://www.louverture.ch/BUCH/material/PARLAMENT/VORSTLISTE.html.
- Niklaus STETTLER, Peter HAENGER, Robert LABHARDT, Baumwolle, Sklaven und Kredite: die Basler Welthandelsfirma Christoph Burckhardt & Cie. in revolutionärer Zeit (1789-1815), Basel 2004.
- Thomas DAVID, Bouda ETEMAD, Janick Marina SCHAUFELBUEHL, La Suisse et l'esclavage des noirs, Lausanne 2005, auf Deutsch als Schwarze Geschäfte. Die Beteiligung von Schweizern an Sklaverei und Sklavenhandel im 18. und 19. Jahrhundert, Zürich 2005
- Hans FÄSSLER, Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei, Zürich 2005 (erscheint 2007 auf Französisch bei Editions Duboiris).
- Niklaus RÖTHLIN, "Koloniale Erfahrungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts - Die Plantagen der Firmen Thurneysen aus Basel und Pourtalès aus Neuenburg auf der westindischen Insel Grenada", Sonderdruck aus: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde, Bd. 9, 1991, S. 129-146.
- Hans Werner DEBRUNNER, Schweizer im kolonialen Afrika, Basel 1991.
- Sylvie STRECKEISEN, "La Place de Genève dans le Commerce avec les Amériques aux XVIIe et XVIIIe siècles", in: Mémoires d'esclaves, Musée d'ethnographie, Genève 1997, S. 31-50.
- Daniel V. MOSER-LÉCHOT, "Schweizer Banken und der 'Black Holocaust' ", in: Schweizerische Lehrerinnen- und Lehrerzeitung, 11/1997, S. 14-16.
- Rosa Amelia PLUMELLE-URIBE, Weisse Barbarei. Vom Kolonialrassismus zur Rassenpolitik der Nazis, Zürich 2004
- Material zu Hans Fässlers Kabarettprogramm, zu seinem Buchprojekt und zu laufenden Debatten unter: www.louverture.ch.