Schwarze Vergangenheit

Hans Fässler: Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei. Zürich: Rotpunktverlag 2005. 340 S., Fr. 36.-.

Was hat die Schweiz mit Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus zu tun gehabt? Nichts, sagte noch im September 2001 der Schweizer Menschenrechtsvertreter bei der UNO 1). Die historische Forschung zeichnet allerdings schon seit einiger Zeit ein anderes Bild: Berühmte Schweizer Familien, Handelsunternehmen und Bankiers waren auf verschiedene Weise an der Sklaverei beteiligt. Sie finanzierten Sklavenschiffe, bewirtschafteten in Übersee Plantagen mit Sklaven, handelten mit Baumwolle, Kakao und anderen Gütern aus Sklavenarbeit, waren als Söldner an der blutigen Niederschlagung von Sklavenaufständen beteiligt oder lieferten als Intellektuelle einen Beitrag zu jenem Rassendiskurs, mit dem die Sklaverei ideologisch legitimiert werden konnte. Seit 2003 macht der Sankt Galler Lehrer und Politkabarettist Hans Fässler in der Öffentlichkeit auf diese schuldhafte Verstrickung von Schweizern in die transatlantische Sklavereiwirtschaft aufmerksam, unter anderem mit seinem Kabarettprogramm «Louverture stirbt 1803» (siehe auch seinen Beitrag in der Roten Revue 3/2004, S. 46-48). Sein Buch «Reise in Schwarz-Weiss» wirft erhellende Schlaglichter auf dieses düstere und viel zu wenig bekannte Kapitel der Schweizer Geschichte und plädiert für eine Wiedergutmachung des begangenen Unrechts.

Ausgehend von Bertolt Brechts Diktum, wonach das Böse eine Adresse und Telefonnummer habe, nimmt Fässler den Leser mit auf eine Reise durch die Schweiz vom Bodensee bis nach Genf. In 19 «Ortsterminen» zeigt er anschaulich - gestützt auf Schweizer und internationale Fachliteratur und eigene Recherchen - die vielfältige Beteiligung von Schweizern an der Sklaverei vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Im ersten Kapitel ("9400 Rorschach SG") erzählt Fässler zum Beispiel vom Rorschacher Johann Baptist Gächter, der 1803 als Leutnant in französischen Solddiensten zusammen mit 635 anderen Schweizer Offizieren und Soldaten von Napoleon auf die Karibikinsel Saint-Domingue geschickt wurde, um dort als Teil eines französischen Expeditionskorps die aufständischen Sklaven zu bekämpfen. Die Expedition scheiterte. Die ehemalige Sklavenkolonie Saint-Domingue wurde zur ersten schwarzen Republik der Welt: Haiti. Gächter starb auf der Heimreise.

In «9043 Trogen AR» erinnert Fässler daran, dass die mit farbigen Mustern bedruckten Indiennes-Tücher aus Baumwolle - ein wichtiges Exportgut der Schweizer Textilindustrie - bei den schwarzen Sklavenhändlern der afrikanischen Küstenstaaten so beliebt waren, dass sie dort als eigentliche Währung des Sklavenhandels ("l'argent de la traite") galten. Fässler folgt den Spuren von St. Gallern Plantagenbesitzern (und damit Sklavenhaltern) in Guyana und Surinam ("9000 St. Gallen"), öffnet die «Buchhaltung des Grauens» verschiedener Basler Familien, die sich zwischen 1783 und 1818 finanziell an rund 70 Sklavenhandelsexpeditionen und damit der Verschiffung von über 20000 Sklaven beteiligten ("4051 Basel") und betont im Kapitel «1800 Vevey VD», dass auch das süsse Wahrzeichen der Schweiz lange Zeit einen bitteren Beigeschmack hatte: Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden nämlich die Rohstoffe der Schokolade in gewissen Ländern mit Sklavenarbeit produziert.

Was Fässler in 19 Kapiteln an vielen Einzelbeispielen aufzeigt, lässt sich im Grunde genommen auf eine einfache Formel bringen: Die Schweiz war - anders als manche das vielleicht wahrhaben möchten - auch schon im 17., 18. und 19. Jahrhundert keine abgeschottete Insel, sondern durch vielfältige Finanz- und Handelsbeziehungen eingebunden in eine zunehmend globale Wirtschaft, die - zumindest was den Atlantikraum angeht - zu einem grossen Teil auf der Ausbeutung der Arbeitskraft von schwarzen Sklavinnen und Sklaven beruhte. Fast immer waren es Einzelpersonen, Familien oder Handelsunternehmen, die sich an der Sklavereiwirtschaft beteiligten und davon profitierten. Der «Staat», beziehungsweise die Orte der alten Eidgenossenschaft, spielten dagegen eine vergleichsweise bescheidene Rolle, mischelten aber gelegentlich auch mit. So war etwa Bern 1723 der mit Abstand grösste Aktionär der sklavenhandelnden Südsee-Gesellschaft, noch vor der Bank von England und dem englischen König George I!

Die involvierten Schweizer - honorige Bürger und übrigens fast ausschliesslich Protestanten - fanden dabei offenbar nichts Schlechtes an der Sklaverei, aus der sie ökonomischen Profit zogen. Historische, ökonomische und religiöse Begründungen konnten der Beruhigung des schlechten Gewissens dienen, dass sich beim einen oder anderen bei der Konfrontation mit dem Schicksal der schwarzen Sklaven offenbar doch regte. Aufschlussreich hierfür ist etwa das Tagebuch des Zürchers Adolf Guyer, der 1860 mit 21 Jahren die Südstaaten der USA bereiste, um den Herkunftsort jenes Rohstoffes kennen zu lernen, der in der Fabrik der Guyers im zürcherischen Neuthal verarbeitete wurde: Baumwolle. Guyer, der mehrere Plantagen besuchte und zusammen mit Sklaven Baumwolle pflückte, bezeichnete die Sklaverei in den Südstaaten als «nothwendiges Uebel» und notierte weiter: «Die Natur hat d. Neger eine Constitution verliehen, die ihm ermöglicht, da zu arbeiten, wo der Weisse es eben nicht einmal kann; & blicken wir auf die bei den grössten Nationen des Alterthums, die Griechen & die Römer, so sehen wir, dass auch sie Sklaverei hatten; wäre sie Gott zuwider & würde er sie als s. göttlichen Gesetzen verletzend ansehen, hätte er sie in der Neuzeit wieder aufkommen lassen?»

Im Schlusskapitel wagt Fässler eine Quantifizierung der Schweizer Beteiligung an der Sklaverei und stützt sich dabei auf Schätzungen anderer Autoren: So sollen mit Schweizer Investitionen rund 172 000 Afrikaner in die Sklaverei deportiert worden sein. Für geschätzte 50 Schweizer Plantagen in Südamerika, der Karibik, in Nordamerika und Südafrika bilanziert Fässler eine halbe Million versklavte Frau- und Mannjahre. Mit Blick auf die finanzielle Beteiligung der kleinen Eidgenossenschaft am grossen Überseehandel und dessen Finanzgeschäften spricht er gar von der Schweiz als einer «Teilzeit-Kolonialmacht» .

Hoch stuft Fässler ausserdem den Schweizer Beitrag zur ideologischen Untermauerung der Sklaverei ein. Im 18. und 19. Jahrhundert entstand eine biologisch argumentierende Rassenlehre, die die Versklavung von schwarzen Menschen wissenschaftlich mit deren angeblichen Minderwertigkeit rechtfertigte. Auch Schweizer Gelehrte mit internationaler Ausstrahlung wirkten an der Genese und Verbreitung dieser unheilvollen Rassenlehre mit. Fässler erwähnt etwa den Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801), der einen Zusammenhang zwischen der Physiognomie und dem Charakter eines Menschen postulierte und dabei «den Schwarzafrikaner als thierisch beschränkt doch geschickt im Kleinen» bezeichnete. Der Berner Staatsrechtler und Politiker Carl Ludwig von Haller (1768-1854) veröffentlichte 1818 im dritten Band seines Werkes «Restauration der Staatswissenschaften» eine Rechtfertigung der Sklaverei, die international rezipiert wurde.

Besonders stossend ist jedoch das Beispiel des naturwissenschaftlichen «Popstars» Louis Agassiz (1807-1873) aus dem freiburgischen Mötier, der die Theorie der Eiszeit popularisierte. Seine erste Begegnung mit Schwarzen während einer USA-Reise 1846 erfüllte ihn mit unverhohlenem Ekel und erschütterte seinen Glaube an die Theorie der Monogenese, wonach der Mensch an einem Ort entstanden und sich dann über die Erde verbreitet habe. "Ich kann das Gefühl nicht unterdrücken, dass sie nicht vom selben Blut sind wie wir", vertraute er seiner Mutter in einem Brief an. In der Folge wurde Agassiz in den USA zu einem der wichtigsten Advokaten der Polygenese, die von verschiedenen «Wurzeln» der Menschheit ausging und damit der rassistischen Kategorisierung und Hierarchisierung der verschiedenen «Rassen» Vorschub leistete.

Viele der Fakten und Zusammenhänge, die Fässler in seinem Buch aufzählt, sind z. T. schon vor Jahrzehnten in wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlicht worden. Rezipiert wurden sie allerdings kaum. Fässlers Verdienst liegt darin, mit seinem Buch diese Informationen auch einem breiten Publikum zugänglich gemacht zu haben. Leicht macht es der «Teilzeithistorker» (Selbstbezeichnung Fässlers) seinen Lesern allerdings nicht. Er hüpft durch die Jahrhunderte, Länder und Themen, vom Dorfplatz in Trogen nach Haiti, von der wissenschaftlichen Rassenlehre zur Niederschlagung von Sklavenaufständen in Surinam. Einen systematischen Überblick über das zeitliche und geografische Engagement der verschiedenen Schweizer Akteure (Financiers, Plantagenbesitzer, Soldaten, Intellektuelle) vermag das Buch insofern leider nicht zu bieten. Bedauerlich ist auch, dass Hans Fässler den Schweizer Sklavereigegnern nur ein paar dürre Zeilen widmet. Dass etwa die Westschweiz im späten 18. Jahrhundert ein wichtiger Umschlagplatz für den Transfer von abolitionistischen Ideen und Traktaten aus England nach Frankreich darstellte; dass von 1858-1865 eine «Association du Sou par Semaine en faveur des esclaves» Geld sammelte, um Sklaven in den USA freizukaufen (und von den Freigekauften verlangte, diese Summe aus dem zukünftigen Lohn zurückzuzahlen); dass es zwischen 1877 und 1898 eine Reihe von Vereinen gab, die sich den Kampf gegen den von Arabern betriebenen Sklavenhandel in Afrika auf die protestantische Fahne geschrieben hatten - all dies hätte das Bild der schwarz-weissen Schweizerreise um interessante Aspekte ergänzt. 2)

Seit Jahren fordern schwarze Gemeinschaften rund um den Atlantik Reparationen an die Opfer der Sklaverei, die an der Antirassismus-Konferenz der UNO von 2001 in Südafrika als Verbrechen gegen die Menschlichkeit geächtet wurde. Diese heftig geführte Debatte, die auch den innerafrikanischen Sklavenhandel nicht ausklammert, wird im Norden kaum wahrgenommen, gehe aber auch die Schweiz etwas an, wie Hans Fässler in seinem Schlusswort betont. Nötig seien die Aufarbeitung der Geschichte, ein symbolischer Akt der Anerkennung der Schuld und Mitverantwortung am Verbrechen Sklaverei und letztlich auch eine materielle Wiedergutmachung. In verschiedenen Kantonen und Städten hat Hans Fässler (von 1984 bis 1994 für die SP im St. Galler Kantonsparlament) entsprechende parlamentarische Vorstösse zur «Sklavereivergangenheit» der Schweiz angeregt; die Interpellationen und die Antworten der entsprechenden Exekutiven sind auf seiner Homepage www.louverture.ch dokumentiert.

Die Debatten um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die Beziehungen mit dem Apartheidsregime Südafrikas haben gezeigt, wie stark sich Firmen und andere historische Akteure aber auch politische Kreise gegen die Aufarbeitung von Geschichte stemmen, vor allem wenn diese mit möglichen finanziellen Folgen verbunden sein könnte. Bei der Schweizer Sklavereivergangenheit ist es nicht anders. So tun sich Schweizer Familien schwer mit ihrer Sklavereivergangenheit; die Neuenburger Pourtales verweigerten etwa dem Historiker Fässler den Zugang zum Familienarchiv. Und als Hans Fässler letztes Jahr beim St. Galler Lotteriefonds einen Beitrag von 15 000 Franken für die Recherchierarbeiten des vorliegenden Buches beantragte, wollte die SVP im Kantonsparlament diesen Beitrag kippen.

In Leserbriefen wurde vor «Fagan und anderen Geiern» gewarnt. SVP, FDP und CVP unterlagen schliesslich mit ihrem Streichungsantrag. Dank weiteren finanziellen Beiträgen und einem grosszügig ausgelegten einjährigen Bildungsurlaub der Kantonsschule Trogen (AR), wo Fässler Geschichte und Englisch unterrichtet, konnte dieses wichtige Buch erscheinen.

Stephan Moser

1) Nachzulesen in der Interpellation von Pia Hollenstein (Grüne, SG) im Nationalrat vom 5. März 2003
2) Im Anhang verweist Fässler allerdings auf weiterführende Literatur zum Thema: Thomas David, Bouda Etemad, Janick Marina Schaufelbuehl: La Suisse et l'ésclavage des Noirs, Lausanne 2005, 107-154.