Wunden, Heilung, Erlösung, Halleluja
(Tagbl. vom 16.1.2007: "Die Wunde muss noch heilen" von Josef Osterwalder)

Mit einem pompösen Festakt ist die Beilegung des Kulturgüterstreits begangen worden. Die Kundgebung der Aktion "Gerechtigkeit für den Globus" wurde dabei von den Medien und der st.gallischen Öffentlichkeit entweder ignoriert oder mit süffisanten Kommentaren versehen wie "Botschaft nicht neu", "Parallele nicht gesehen" oder "Was hat das mit dem Kulturgüterstreit zu tun?".

Es ist bezeichnend, dass keinem Journalisten aufgefallen ist, wie sehr sich die Rednerinnen und Redner im Kantonsratssaal in Stil und Bedeutungsebene vergriffen haben. Es ist nachgerade grotesk, angesichts von einigen klösterlichen Handschriften und einem Globus, welche von 8000 Zürich nach 9000 St.Gallen verschoben worden sind, von "Versöhnung in Reinkultur", von "Wunden und Verletzungen", von "Erlösung" und "Heilung" zu sprechen und gar ein Gandhi-Zitat über den Weg zum Frieden heranzuziehen. Es ist bezeichnend, dass kein Journalist je die Behauptung in Frage gestellt hat, es gehe hier um "St.Galler" Identität, die Handschriften seien "für St.Gallen" besonders identitätsstiftend" und "St.Gallen" habe diese Kulturgüter zurückgefordert. Als genauer Beobachter der Auseinandersetzung der vergangenen Jahre und als Zuschauer der Festaktes würde ich es heute so formulieren: Ein halbes Hundert von Personen, die grösstenteils dem katholisch-konservativen Bildungsbürgertum angehören und von denen einige ideologisch noch unter dem Krummstab leben, verwechseln ihre eigene Identität mit derjenigen von 450'000 Einwohnerinnen und Einwohnern des Kantons.

Es ist kein Zufall, dass die ganze Sache, je weiter man sich aus dem Schatten der Klostertürme entfernt, immer nüchterner gesehen wird. So war es der Zürcher Regierungsrat Notter, der immerhin von "einer gewissen Skurilität" sprach und aufzeigte, in welche Richtung man weiterdenken müsste, als er von den Schwierigkeiten der Versöhnung in jenen Fällen sprach, wo es um erlittenes Unrecht in welthistorischen Dimensionen geht. Zufällig hatte ich am Tag nach dem St.Galler Festakt Gelegenheit, an der Volkshochschule Zürich eine Vorlesung über die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei zu halten. Dabei kam ich am Schluss auch auf den Kulturgüterstreit zu sprechen, und ich behaupte, dass das Zürcher Publikum innert einer Minute begriffen hat, worum es geht: Dass es nämlich an Heuchelei und Rassismus grenzt, wenn gewisse politische Kreise in St.Gallen von der SVP über die FDP bis hin zur CVP viel Geld, Zeit und Herzblut einsetzen, wenn es um ihr eigenes so genanntes Unrecht (von 1712) geht, sich jedoch mit Händen und Füssen gegen Aufarbeitung und Wiedergutmachung wehren, wenn andere sich (bei historisch viel jüngerem Unrecht) in ihrer Identität und Würde verletzt sehen. So geschehen bei der Aufarbeitung des Falls Grüninger, bei der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und bei den Schweizer Verstrickungen mit der Apartheid. Und so heute wieder geschehend bei der Forderung nach Aufarbeitung und Wiedergutmachung der Sklaverei.