SCHWEIZ UND KOLONIALHANDEL

Gesucht: Berner Sklaventreiber

Unglaublich: Alt-Bern investierte vor 300 Jahren Rentengeld in den Sklavenhandel. So steht es im neuen Buch des Historikers Hans Fässler. Er löst damit Empörung über die ferne Vergangenheit aus. Aber: Ist das wirklich ein Skandal? Und ist das heutige Bern schuldig?

Die unselige Tradition der Berner Finanzskandale begann früh, schon im Alten Bern der Patrizier. Im Jahre 1720 verspekulierte sich das Berner Bankhaus Malacrida im Südamerika-Handel. Die Bank setzte fast eine Million Taler aus dem Berner Staatsschatz in den Sand und ging bankrott. Der enorme Verlust stürzte Hunderte von Gläubigern aus dem Stadtberner Mittelstand in Not. Der Crash wurde abgewickelt, wie spätere auch: auf Kosten der privaten Anleger und Steuerzahler, ohne Bestrafung der Verantwortlichen. Heute ist die Affäre so vergessen, wie es andere Berner Finanzskandale auch bald sein werden.

Finstere Berne-Connection?

Vergessen? Halt. Die uralte Geschichte taucht plötzlich wieder in der Gegenwart auf. Und erst noch mit einem ungeahnten Skandalpotenzial: Der Staat Bern war nämlich via Malacrida-Bank ein Grossaktionär der South Sea Company. Und die kaufte in Afrika auch Sklaven, verschiffte sie unter schrecklichen Bedingungen nach Lateinamerika und liess sie dort in den Plantagen der Kolonialherren schuften. Zur Sicherung der Renten investierte der alte Staat Bern ausgerechnet in das lukrative Überseegeschäft, dessen Gewinne auf unmenschlicher Sklaverei basierten. Das legt jedenfalls das eben erschienene Buch «Reise in Schwarz-Weiss» des St. Galler Lehrers, Historikers und Kabarettisten Hans Fässler nahe. Er untersucht darin in neunzehn Schweizer Orten historische Beteiligungen am Sklavenhandel des 18. und 19. Jahrhunderts.
 
Fässlers Buch hat eine Debatte ausgelöst, die um diese Fragen kreist: Gab es tatsächlich eine zentrale Swiss oder gar Berne Connection zum Sklavenhandel? Oder war die Beteiligung der Schweiz in Wahrheit bloss eine von einzelnen Schweizern? Und: Ist es richtig, diese lange zurückliegende Beteiligung heute moralisch zu verurteilen?

Blosse Finanzbeteiligung?

Das Berner Beispiel der Bank Malacrida kann in der Debatte Aufschluss geben, weil es 2003 in einer Dissertation minuziös aufgearbeitet worden ist. Der Autor, der an der Universität Luzern tätige Jurist und Historiker Nikolaus Linder, hat vor einem Jahr in dieser Zeitung seine Forschungsergebnisse vorgestellt. Er erzählte den Crash der Malacrida-Bank als Finanzstory. Mit durchaus kritischem Blick und aktuellen Bezügen. Linder verglich den damaligen Überseehandel mit der platzenden Börsenblase der New Economy der 1990er-Jahre. Die Sklaverei erwähnte er aber nicht.

Eine bewusste Auslassung? Nein. In seiner Dissertation erklärt er, dass die South Sea Company auch deshalb für Anleger interessant war, weil sie über ein Handelsmonopol und eine Sklavenhandels-Konzession für die spanischen Kolonien in Südamerika verfügte. Linder relativiert aber auch: Das Geschäft der Company kam lange nicht recht ins Laufen, und die Sklaverei war nie ihr Hauptzweck. Und der Staat Bern war zwar ein wichtiger Aktionär der Company, aber kein grösserer als Genfer und Schweizer Privatpersonen.

«Die Geschichte um das Berner Engagement wird überbewertet, sie ist keine Sensation», sagt Nikolaus Linder auf Anfrage. Es handle sich bloss um eine stille Finanzbeteiligung. Auch wenn das heute zynisch wirken könne: Die Sklaverei habe um 1720 nicht als empörend gegolten. Wer sich damals in der gewinnbringenden Zukunftsbranche des Überseehandels engagiert habe, habe direkt oder indirekt immer den Sklavenhandel mitgetragen. «Ein explizites Thema oder eine moralische Debatte war das in Bern damals nicht», sagt der Historiker Stefan Altorfer, der an einer britischen Uni die Berner Auslandinvestitionen im 18. Jahrhundert untersucht. Die Diskussion über die Verwerflichkeit der Sklaverei sei überhaupt erst im 18. Jahrhundert angelaufen. 

Wohlstand dank Sklaven?

«Es scheint mir eine schlechte Entschuldigung, wenn sich das heutige Bern damit beruhigt,  die South Sea Company sei ja wirtschaftlich nicht der erhoffte Erfolg gewesen», repliziert Buchautor Hans Fässler auf Anfrage. Im Bern-Kapitel seines Buchs nennt er eine Schätzung, wonach die South Sea Company im 18. Jahrhundert bis zu 40 000 Menschen versklavt habe. Das Berner Engagement sei überdies ein Beispiel, dass nicht nur Schweizer Privatpersonen, sondern auch ein Staatswesen der Alten Eidgenossenschaft am Sklavenhandel mitverdient habe. In den Wohlstand des heutigen Bern seien Sklavereigewinnen des alten Bern eingeflossen.

Nikolaus Linder hält solche Parallelen über 200 Jahre hinweg  für problematisch: «So hat irgendeinmal alles mit allem zu tun, und Bern oder die Schweiz von heute ist für das Elend von vorgestern mitverantwortlich.» Für Linder gibt es Fehler, für die die Schweiz direkter verantwortlich ist, etwa die Rückgabe von Vermögenswerten aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Beteiligung am Sklavenhandel sieht er eher als Einzelfall.

Es gehöre eben gerade zum Sklavenhandel, dass er sich aus lauter Einzelfällen zusammensetze, erwidert Fässler. Er nennt in seinem Buch reiche Schweizer Handels- und Textilfamilien sowie Plantagenbesitzer aus allen Landesteilen, die am so genannten Dreieckshandel zwischen Afrika, Europa und Amerika mitverdienten. Bis ins 19. Jahrhundert wurden so über den Atlantik Millionen schwarzer Sklaven, Rohstoffe wie Baumwolle oder Kaffee sowie textile Fertigprodukte verschoben. Das Engagement ging im Fall der Basler Handelsfamilien Burckhardt so weit, dass sie auf Sklavenschiffen über 7000 Afrikaner nach Amerika verschifften. Etwa 1000 überlebten die Überfahrt nicht.

Hüben und drüben empört

Fässler hat durch seine Recherchen zur Sklaverei, die er auch kabarettistisch umsetzte, schon vor der Buchpublikation für Aufregung gesorgt. Der Disput geht zwischen den politischen Lagern hin und her. Das St. Galler Kantonsparlament wollte anfänglich einen Geldbeitrag für Fässlers Buch streichen. Nicht schon wieder eine historische Aufarbeitung, die dem Image unseres Landes schadet, befanden die Kritiker. Sie hielten die Schweizer Verwicklung in die Sklaverei für verjährt, erledigt und überschätzt. Dennoch liess sie das heisse Thema nicht kalt. Dahinter vermuteten sie eine politische Kampagne. In der Tat engagiert sich Fässler für die Sklavennachkommen, die an der Antirassismus-Konferenz der UNO 2001 im südafrikanischen Durban Entschädigungszahlungen forderten. In seinem Buch vergleicht er die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei mit dem eifrigen helvetischen Engagement im Südafrika der Apartheid. Eine Nationalfondsstudie über dieses heikle Kapitel hat kürzlich im linken wie auch im rechten Lager heftige Reaktionen ausgelöst.

Fässler publiziert auf seiner Homepage auch einen E-Mail-Kontakt mit dem umstrittenen US-Anwalt Ed Fagan, der eine Klage von Apartheidopfern gegen die Schweizer Grossbank UBS mitträgt. Es ist jener Ed Fagan, der in der Schweiz als rotes Tuch gilt, seit er publikumswirksam das Verfahren gegen Schweizer Banken und ihre nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern antrieb. Fässler hält die Beteiligung an der Sklaverei für ein so düsteres Schweizer Kapitel wie die Kooperation mit Nazi-Deutschland.

Auch in Bern hat Fässler Widerspruch erregt, als seine Recherchen 2003 im Stadtparlament eine Debatte über Alt-Berns Rolle bei der Sklaverei auslöste. Zwar wurde eingestanden, Berns Weste sei nicht rein. Aber auch moniert, die Verwicklung in die Sklaverei liege zu weit zurück, um Verantwortliche in unserer Gegenwart zu bezeichnen. Zudem gebe es naheliegenderes Unrecht, an dem Bern beteiligt gewesen sei: gegenüber ins Ausland verkauften Söldnern, Täufern, Juden oder heute gegenüber Asylsuchenden.

«Komplizenschaft»?

Die Debatte dreht sich um das Ausmass des Schweizer Engagements in der Sklaverei und die moralischen Schlüsse daraus. Fässler zieht in seinem Buch eine Bilanz: Gemessen an der Zahl versklavter Menschen und am Plantagenbesitz hätten Schweizer etwa ein Prozent des transatlantischen Sklavenhandels in ihren Händen gehabt. Der Anteil sei gemessen an den europäischen Kolonialmächten klein, für ein kleines Binnenland aber doch «beträchtlich».

Fässler spricht von einer Schweizer «Komplizenschaft» und nimmt selbstbewusst die «schwarze Perspektive» der Opfer ein, aus der die Geschichte der Industrialisierung eine Ära der Ausbeutung sei. Das Unrecht, fordert er, müsse heute von Schweizer Rechtsnachfolgern mit Wiedergutmachungszahlungen gesühnt werden. Seine pointierte Haltung hat selbst unter Sklavereiforschern Widerspruch provoziert: Seine Formulierung «Komplizenschaft» wurde abgelehnt. Und ein welscher Forscher befand zur Zahlungsaufforderung, man könne «das Irreparable nicht reparieren».

Die Moral der Geschichte

Die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei ist diskussionswürdig. Aber ist sie auch ein Skandal, der nationale Sühne und moralische Aburteilungen erfordert? Was von Fässlers Buch jenseits der Empörung bleiben könnte: Er hat eine Debatte über die Aktualität der Vergangenheit ausgelöst. Und er mutet uns Tatsachen über unsere Gegenwart zu, die wir gerne ausblenden. Tatsachen, die vertrackter sind, als es Fässler selber vielleicht wahrhaben würde.

Die erste: Die Globalisierung hatte immer schon zwei Gesichter: Sie ist unabdingbar, um die Modernisierung der Welt voranzutreiben. Aber sie war nie ohne Verlierer zu haben. Die zweite: Die Schweiz ist kein Sonderfall. Sie war immer Teil der Welt und der Weltgeschichte. Es ist eine Illusion zu meinen, unser Land habe seinen Reichtum zuhause, aus eigener Kraft und ohne Ausbeutung erworben. Zum dritten: Die Welt ist nicht nach moralischen Massstäben strukturiert. Arm und Reich, Macht und Ohnmacht prägen und bremsen die Welt, bewegen sie aber auch. Fortschritt erwächst oft aus Ungleichheit. Unrecht gebiert Recht – aber leider immer mit Verspätung.

Der Autor: Stefan von Bergen (stefan.vonbergen@bernerzeitung.ch) ist «Zeitpunkt»-Leiter.