Brissago und der Tabak


Handarbeit: Frauen drehen in der Tabakfabrik im Tessin die «Brissagos». Bild: ky/Karl Mathis

Mit Rednern wie Jean-François Bergier, Werner Rings, Cornelius Koch oder dem moslemischen Gemeinderat Hassan El Araby hat Brissago eine eigene Tradition der Bundesfeier etabliert. Wir drucken die diesjährige Rede des St. Galler Historikers Hans Fässler.

Anlässlich eines Vortrags in Trogen, Appenzell Ausserrhoden, habe ich von der Baumwolle gesprochen. Die Baumwolle, welche zum Reichtum der Familie Zellweger beigetragen hat, ist nicht vom Himmel gefallen. Sie war das Produkt des transatlantischen Sklavereisystems, sie kam aus Cartagéna in Kolumbien, aus den karibischen Sklavereikolonien Cayenne und Haiti sowie aus den Südstaaten der USA Georgia und Louisiana. Karl Marx hat es auf den Punkt gebracht: «Ohne Sklaverei keine Baumwolle; ohne Baumwolle keine moderne Industrie.»

Als ich in Neuenburg referierte, habe ich von der Schokolade gesprochen. Die Schweizer Schokolade der Gründerzeit war im übertragenen Sinn, genauso wie die Baumwolle, schwarz: ein Produkt des schwarzen Atlantiks, der Sklavenhaltergesellschaften von Venezuela, Brasilien, Surinam, Kuba und der portugiesischen Afrika-Inseln Sao Thomé & Principe.

An einem Vortrag in Genf bin ich auf den Zucker zu sprechen gekommen, auf den Zucker, der schon Mitte des 18. Jahrhunderts in grossen Mengen aus den französischen Atlantikhäfen Bordeaux, La Rochelle und Nantes ankam und der von Sklavinnen und Sklaven in Guadeloupe, Martinique und Haiti hergestellt worden war.

Anlässlich eines Referats in Stein am Rhein habe ich das Sklavereiprodukt Kaffee behandelt, an einem Vortrag in St. Gallen den sklavereiproduzierten Textilfarbstoff Indigo. Und heute, da Sie mich eingeladen haben, hier in Brissago die Bundesfeieransprache zu halten, werde ich natürlich vom Tabak sprechen.


Die Carmen von Ronco

Man kann dies, so glaube ich, auf drei Arten tun: Man kann erstens die faszinierende Geschichte der Gründung der Tabakfabrik im Jahre 1847 erzählen und die Geschichte der «Sigaraia» Natalia, eine Art schweizerischer Carmen aus Ronco, welche als Zigarrenarbeiterin in der Novelle von Giuseppe Cavagnari die Hauptrolle spielt. Und man kann natürlich auf der Dannemann-Website lesen, wie 1872 der deutsche Zigarrenspezialist Gerhard Dannemann aus Bremen nach Brasilien ausgewandert ist, um dort dank Weitsicht und Mut Geraldo Dannemann zu werden, Gründer eines Tabakimperiums im Bundesstaat Bahia, Unternehmer von einer unglaublichen Dynamik, postumer Schöpfer von Kulturzentren, wo Ideen, Träume, Gedanken und Lifestyle Platz finden.

Das ist nicht die Geschichte, die ich erzählen will. Das ist die touristische Legende, das ist Mythenbildung und Standortmarketing, das ist der Stoff, aus dem die Träume, die Opern und die Hollywoodfilme sind.

Man kann die Geschichte auch anders erzählen, also zweitens: als Klassenkampf. Das wäre Stoff für eine 1.-Mai-Ansprache, die Geschichte der Arbeiterinnen mit den blauen Schürzen und den müden Beinen, der Grenzgängerinnen aus Cannobio, der Löhne auf einer Höhe von 15 Prozent unter dem schweizerischen Durchschnitt, die Geschichte der Akkordarbeit und der beiden Streiks in den Zwanzigerjahren und die Geschichte der sechs Arbeiterinnen (oder, wie sie in den Legenden jeweils heissen: «Mitarbeiterinnen» oder «Angestellte»), mit denen Geraldo Dannemann seine Fabrik aufbaute.


Offenheit gegenüber der Welt

Die Präambel der Schweizer Bundesverfassung spricht von der Notwendigkeit von «Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt». Ich glaube, es gibt hier in Brissago kein passenderes Thema als den Tabak, um diese Offenheit der Welt gegenüber zu üben. Deshalb, zum dritten, die klassische Frage: Von wo sind im 19. Jahrhundert die 600-Kilo-Fässer mit Tabak gekommen, die hier im Hafen von Brissago ausgeladen wurden?

Im Jahre 1847, dem Gründungsjahr der Tabakfabrik, kam der Tabak aus Kentucky und Virginia. In Virginia zählte man damals 120 000 Sklavinnen und Sklaven auf eine Gesamtbevölkerung von 230 000, und der Staat Kentucky beschäftigte den grössten Teil seiner Sklavenbevölkerung in den Tabakanbaugebieten von Bluegrass und Jackson Purchase. Man kann also über Brissago (und übrigens auch über den Aargau, das klassische Produktionsgebiet des «Stumpens») festhalten, dass der Tabak jener Zeit schwarz war, das heisst ein Sklavereiprodukt.

Wir sollten nicht vergessen, liebe Nichtraucher und liebe Raucherinnen, dass es die Sklavinnen und Sklaven waren, welche die Tabaksamen düngten, aussäten, die Setzlinge pikierten, die Plantagen bewässerten, das Unkraut jäteten und schliesslich die Tabakblätter ernteten, trockneten und zum Transport nach Übersee verpackten.

Was war das für eine Welt, in welche 1872 jener Mann mit dem gepflegten schwarzen Bart auswanderte, den wir von dem blumenumrahmten Medaillon vor der Kulisse der Fabrikgebäude am Rio Paraguaçu kennen, von einem Bild, das auf Tausenden von Zigarilloschachteln aufgedruckt und das auch am Centro Dannemann unten am See zu sehen ist? Man kann die These des nigerianischen Historikers Inikori nicht genug wiederholen: Brasilien war bezüglich Exportproduktion und Demographie bis 1872 ein afrikanisches Land. In diesem afrikanischen Land hatten sich vor Dannemann auch schon schweizerische Unternehmer niedergelassen: etwa der Berner von May, welcher im Küstenstaat Bahia mit Sklavinnen und Sklaven riesige Tabak- und Kaffeeplantagen unterhielt, oder der Neuenburger de Meuron, der mit seiner Schnupftabakfabrik samt Sklaven bei Salvador de Bahia ein Vermögen erwirtschaftete.


300 Jahre Sklaverei

Und auch Schweizer Auswanderer waren in Bahia zu Sklavenhaltern geworden. Zu erinnern ist an die Schweizer Kolonie Leopoldina, welche 1819 von Romands vor allem aus der Waadt gegründet wurde und nach der Jahrhundertmitte mit rund 2000 Sklavinnen und Sklaven Kaffee produzierte. Es war just im Jahre 1872, als die vermutlich letzte Sklavenplantage in Schweizer (Schaffhauser) Besitz liquidiert wurde. Im selben Jahr liess sich Gerhard Dannemann im Recôncavo nieder, einer Region, die Professor Barickman von der Universität Arizona «eine der dauerhaftesten Sklavenhaltergesellschaften der Neuen Welt» nennt.

Während 300 Jahren arbeiteten dort versklavte Männer und Frauen aus Afrika sowie deren Nachkommen in jeder nur erdenklichen Tätigkeit. Und vor allem produzierten sie auf den sandigen Böden um die Bucht von Bahia Tabak zum Export nach Europa und Westafrika. Um die Städte Cachoeira, Maragogipe, Nazaré und São Felix (dort, wo Dannemann 1873 die Zigarrenfirma Schnarrenbruch aufkaufte) war eine Zigarrenindustrie entstanden, welche denjenigen Tabak verarbeitete, den die umliegenden Distrikte mit Sklavenpopulationen von 20 bis 70 Prozent produzierten. Der Tabakanbau machte aus dem Recôncavo eine der dichtesten Sklavenbevölkerungen von ganz Brasilien, und 1872 betrug sie noch rund 80 000 Sklavinnen und Sklaven.


Gedenken an die Schwächsten

Edouard Wahl hat kürzlich bei der Eröffnung der 14. Legislaturperiode des Gemeindeparlaments von Brissago als Alterspräsident eine wunderschöne Rede gehalten. Darin hat er eine Stelle aus der Präambel der Bundesverfassung gewissermassen globalisiert: «Dass die Stärke des Planeten sich misst am Wohl der schwächsten seiner Bewohnerinnen und Bewohner.» Ich möchte diesen Gedanken weiterspinnen und zum Schluss die These aufstellen, dass sich die Stärke des historischen Bewusstseins am Gedenken an die Schwächsten misst, also zum Beispiel am Gedenken an die Sklavinnen und Sklaven, die mit Blut, Schweiss und Tränen den Tabak für Brissago produziert haben.