Claudia Hutter Bitar
Rheintalische Volkszeitung, 2. April 2003

St. Gallen in der rechten oberen Ecke

Tourneehalt von "Louverture stirbt 1803" im Diogenes-Theater

Wie jubiliert man, wenn ein Kanton 200 Jahre alt wird? Und wenn dieser Kanton obendrein als Bratwurst-Kanton bekannt ist? - Mit politischem und musikalischem Kabarett. Hans Fässler gastierte im Diogenes-Theater.

Hans Fässler, Kabarettist, Satiriker, Hausmann, Mittelschullehre an der Kantonsschule Trogen und vieles mehr, holt in seinem Einmann-Bühnenstück «Louverture stirbt 1803» in weitem Bogen aus, um den Nagel der St. Galler und St.Gallerinnen im Jubeljahr auf den Kopf zu treffen. Auf seiner «Tournée Bicentenaire», die im Februar in St. Gallen mit der Premiere startete, machte er am Samstag irn Diogenes-Theater Halt. Der Saal war voll besetzt. Und das Publikum zeigte sich hoch erfreut, dass der Kabarettist doch mehr übrig hatte als «die phallische Geste für St. Galler Feste».

St. Galler in Haiti

Der Kanton wurde definitiv 1803 gegründet, von einem der Müller hiess (Karl Müller-Friedberg) und «auch noch so aussah», so der Kabarettist. Zur gleichen Zeit, da der Kantonsgründer Anfang November 1803 über Neuenburg und Pontarlier nach Paris reiste und dabei gleich hinter der Schweizer Grenze am Fort de Joux vorbeifahren musste, sass in jenem Schloss in einer kalten Zelle der schwarze haitianische Revolutionär Toussaint Louverture. Er war Gefangener von Napoleon Bonaparte. Und hier stirbt, was woanders anfängt. Der Revolutionär - schwarz - findet seinen Tod; der Kanton - weiss - seine Geburt. Haiti wird unabhängig. Doch was verbindet Haiti und St. Gallen ausser der Jahreszahl 1803? Hans Fässler löst es in seinem rund 90-minütigen Programm auf. Auch 600 Schweizer Soldaten hatten für die Wiedereinführung der Sklaverei auf Haiti gekämpft. Einige von ihnen, waren St. Galler. So zum Beispiel Jean-Baptiste Gächter, der aber schon auf der Überfahrt nach Haiti seinen Tod fand

Fordernde Rollenwechsel

Der 1954 in St. Gallen geborene Fässler, selbst Historiker, wühlt die Geschichtenkiste mächtig durcheinander. Er wirbelt mit Assoziativem rund um den Globus, um es in der friedlichen, rechtsoben angebrachten Landesecke abzulegen. Historische Grössen wie etwa Johannes Künzle, Fürstabt Pankraz, Jean-Jacques Dessalines und Napoleon Bonaparte tauchen auf und fordern vom Zuschauer, sich immer wieder neu zu orientieren. Mal ist der Kabarettist Fernsehmoderator, dann Nachrichtensprecher, darauf Reporter, dann Politiker, gitarrespielender Chansonnier, Anwalt, Lehrer, Volkskundler oder Literaturkritiker. Immer hat er was zu erläutern und auszuführen. Immer ist er überzeugt von der Wahrhaftigkeit des Gesagten. Mit Dutzenden von Hellraumprojektor-Folien unterstützt er den Gehalt seines Vortrages. Man nimmt ihm seinen Rollenwechsel ab, bevor man weiss, wo er einem hinführt.


Durchzappen

Das Programm wirkt bisweilen wie ein Gezappe auf dem Fernsehbildschirm: Aus willkürlich zusammengesetzten Fetzen wird ein vermeintlich Ganzes. Im Programmtext beschwichtigt der St. Galler den Verwirrten: «Sollten Sie im Kabarettprogramm einmal einen Zusammenhang, ein Detail, einen Querverweis nicht aufs Erste verstehen - trösten Sie sich: Mir geht es schon seit drei Jahren so.» Fest steht: Bonaparte ist trotz Werbung mit Schwarzem kein Catering-Service der Migros und die Kathedrale hebt trotz abweisender Ratschläge des Satire-Volkskundler «mit unerträglicher Leichtigkeit» ab. Wir zappen durch das Jahr 2003. Geschichtskunde ist Lebenskunde.