Heidi ist auch Haiti

Hans Fässlers Kabarett «Louverture stirbt 1803»
hatte im St. Galler Pfalzkeller Premiere

Ein Sklaverei-Wanderweg durch die Ostschweiz? Der
ernst gemeinte Witz stammt aus Hans Fässlers Kabarett
«Louverture stirbt 1803». Es eröffnet das Jubiläumsjahr
SG 2003 bös und brillant.

PETER SURBER

Haiti ist nicht Heidi. Haiti liegt in der Karibik, Heidi in der
Belletristik, erklärt uns ein Basler Volkskundler namens
Burckhardt alias Hans Fässler. Haiti ist ein ehemaliges
Sklavenland, Heidiland St. Gallen hat mit Sklave-rei nichts am
Hut. Oder doch?

1803 sticht von Korsika ein Schiff mit über 600 Schweizer
Soldaten in See mit Ziel Santo Domingo. Zusammen mit
Napoleons Armee sollen sie den Aufstand der Sklaven unter
ihrem Anführer Toussaint Louverture, dem «schwarzen
Napoleon», niederschlagen. Der Schweizer Brigade gehören
auch St. Galler an. Keiner kommt lebend zurück. «Mort»
verzeichnet die Liste trocken, welche Fässler in einem
Pariser Archiv aufgestöbert hat. Der Versuch, die alte
Kolonialherrschaft wieder herzustellen, misslingt, Haiti wird
1804 unabhängig. Louverture aber gerät in eine Falle und
stirbt 1803 im Fort de Joux bei Pontarlier nahe der Schweizer
Grenze, eine Woche bevor sich der st.-gallische Grosse Rat
erstmals in der Pfalz versammelt und den neuen Kanton von
Napoleons Gnaden feiert.

Im Brennglas 1803

Die St. Galler Füsiliere, unfreiwillige Opfer grossmächtiger
Kolonialpolitik, sind die eine Seite der unrühmlichen Medaille.
Die andere: Schweizer Banken und Handelshäuser waren
über Jahrhunderte beteiligt am Handel mit Sklaven. Europas
Textilien, Alkohol oder Waffen gegen Sklaven aus Afrika,
Sklaven gegen Rohstoffe wie Zucker oder Indigo aus
Lateinamerika: So lautete die profitreiche globalisierte
Strategie des «Dreieckshandels». An ihr verdiente auch die
Ostschweiz mit, dank Handelshäusern wie Zollikofer oder
Högger aus St. Gallen, Zellweger aus Trogen oder
Gonzenbach in Hauptwil. Das alles kann man wissen und
nachlesen, zum Beispiel beim Historiker Herbert Lüthy und
an entlegeneren Stellen. Hans Fässlers Geniestreich ist es,
das Verstreute zusammen zu lesen. Das Jahr 1803 nutzt er
als Brennglas, unter dem sich die Geschichtsstrahlen
bündeln: das «Sterben eines grossen schwarzen Mannes
und die Geburt eines kleinen weissen Kantons». Das
Brennglas ist in seinem Fall ein Hellraumprojektor, Fässlers
Markenzeichen. Denn wie wird aus schwerem
Geschichtsstoff kluge Unterhaltung? «Vive la didactique»,
sagt sich Hans Fässler, wirft all seine Talente als Historiker,
Politiker, Lehrer und Kabarettist in die Waagschale und Folie
über Folie an die Wand. Websites flimmern vorbei aus der
«Bonaparte Hard Disk», die per Klick von A wie Ausbeutung
bis Z wie Zucker informiert: Desktop Fertilisation, wie anno
1803 jene des Kantons auf einem Pariser Schreibtisch.
Tagesschaukorrespondent Werner van Gent alias Hans
Fässler berichtet windgestrählt aus Ajaccio, Fort de Joux und
Port au Prince vom Scheitern der Schweizer Expedition. Ed
Fagan alias Hans Fässler gibt bekannt, im Rahmen der Swiss
Slavery Connection Campaign eine Sammelklage
anzustrengen. Marcel Reich-Ranicki stellt die langweiligsten
Bücher aus einem langweiligen Kanton vor. Und Tele oha
sucht mit der Sendung «X-Y-Chromosom» nach den Eltern
des 200-jährigen, tattrigen Herrn SG aus CH. Rasend schnell
wechselt Fässler Stimmen, Dialekte, Medien und Themen,
würzt den Geschichtskurs mit Lokallektionen über
Kreiselkultur, Altenrheiner Fluglärm, Amoahkult und
Flaggenstreit. Oder mit einem Loblied auf Quinten, Quarten
und Ober- und Unterterzen, die einzig sicheren Intervalle in
einem Staatswesen, dessen Gründungsgeschichte sonst aus
Irrtümern und Falschwissen disharmonisch zusammengeflickt
ist.

Wie einst Meienberg

Fässlers Methode ist explizit altmodisch: Folienwirbel,
Fernsehästhetik von einst, Stehpult und Klampfe sind die
Requisiten eines Kabaretts, das unerschütterlich auf
Aufklärung durch Wissen und Witz, durch Provokation und
Melancholie beharrt. Dessen Inhalte aber sind hochmodern:
Geldwäscherei, Kapitalströme und die Blutspur der
Kolonialzeit werden als unsere eigene Geschichte kenntlich.
Fässler ist der Anwalt einer Geschichtsschreibung, die die
lokalen Verstrickungen ins globale Unrecht offen legt - ein
Mandat, das seit Meienbergs Tod verwaist war. Am Ende der
vehement beklatschten Premiere galt sein Dank dem Kanton
«für die grosszügige Unterstützung seiner eigenen
Rufschädigung». Sowie dem Ehrengast, dem Vertreter Haitis
bei der UNO in Genf. Ihn hatte die St. Galler Regierung, wie
Fässler genüsslich zitierte, nicht offiziell empfangen wollen,
da «keine erkennbaren Beziehungen» zwischen den
Staatswesen Haitis und St. Gallens bestünden. Der Abend
hätte sie eines Besseren belehrt. Heidi ist auch Haiti.
Weitere Vorstellungen und Dokumente unter:
www.louverture.ch.