SEITENBLICK
Tagesanzeiger 2000-10-09

Die Türme und ihre Würde

Von Hannes Nussbaumer, St.Gallen

St. Gallen hat zwar keinen "wrapped Reichstag". Und, leider, auch
keinen Christo. Aber immerhin zwei "wrapped Klostertürme". Über die
beiden Türme der Kathedrale spannt sich derzeit eine monumentale
Hülle - zwecks Schutzes der umstehenden Bevölkerung vor herunterstürzenden
Steinen. Denn die Klostertürme werden renoviert. Nicht mehr und nicht
weniger. Vor allem nicht mehr: Die Verhüllung will sich nicht als
Kunst verstanden wissen. Und schon gar nicht als Politik. Dabei hat
sie mit Letzterer eine ganze Menge zu tun. Die 13 Millionen Franken
teuren Schäden an der Sandsteinfassade sind eine direkte Folge der
Luftverschmutzung.

Trotzdem wollen sich die Klostertürme nicht mit Politik beflecken.
Ansonsten würde nämlich "ein Präzedenzfall geschaffen". Und diesen
fürchtet der Herr über die Türme, Bischof Ivo Fürer, wie der Teufel
das Weihwasser. Denn: Mit einem Präzedenzfall "würde es fast unmöglich,
derartige Wünsche verschiedenster Art abzulehnen". Bei den "derartigen
Wünschen" handelt es sich um eine Anfrage des St. Galler Kabarettisten
und langjährigen SP-Kantonsrats Hans Fässler. Aus Anlass des kantonalen
200-Jahr-Jubiläums im Jahr 2003 schreibt Fässler ein Kabarettprogramm.
Und will dabei auch die Helvetik zur Sprache bringen, während der die
französische Trikolore von den Klostertürmen geweht hatte. Aus diesem
Grund hätte Fässler "zwecks Fotoaufnahmen" gern für zehn (!) Minuten
die Trikolore an die Türme gehängt. Doch Bischof Fürer will nicht.
Und das, obgleich er über ein bemerkenswertes historisches Bewusstsein
verfügt: In seiner Jugend, verriet er der "Schweizer Illustrierten",
habe er vorzugsweise mit einer "echten Hellebarde" gespielt. Aber eben:
Der Präzedenzfall droht. Und überhaupt: "Für mich steht die Bedeutung
der Kathedrale als Gotteshaus im Vordergrund", schrieb er Fässler. "Dies
ist von grosser Bedeutung für den inneren Raum, aber auch für das Äussere."

Man könnte die Geschichte hier beschliessen. Der Bischof hat entschieden.
Bliebe nicht ein Detail übrig: Denn die bischöfliche Sorge um die
Würde des Gotteshauses scheint nicht grundsätzlicher Natur zu sein,
sondern abhängig von der Person, welche die Würde zu stören gedenkt.
Wenn statt eines linken Kabarettisten eine stramm bürgerliche Vertretung
der lokalen Prominenz antritt, angeführt von FDP-Nationalrat Peter Weigelt
und beraten von der Zürcher Freddy Burger Management Group, dann präsentiert
sich die Sache anders. Das Grüppchen darf ab nächstem Sommer jährlich ein
gigantisches mehrtägiges Klassik-Spektakel auf dem Platz vor der Kathedrale
aufführen. "Standortmarketing" wollen sie damit betreiben, beteuern die
Initianten. Dass dem Kirchenfürsten ob dieser Aussicht das Augenmass
abhanden gekommen ist, darf nicht verwundern. Sie lässt ihn in der
Hoffnung schwelgen, das Marketing reiche bis in den "inneren
(Kirchen-)Raum". Das wäre dringend nötig: Denn was nützt die Sorge
um dessen Würde, wenn der Raum leer bleibt?