„Sinnsuche im Vaterland: Zur Konstruktion identitätsstiftender Geschichtsbilder in der St.Galler Kantonsgeschichte"

von Matthias Weishaupt


[Referat mit Bildern gehalten am 13. April 2003 im Stadt Theater St.Gallen an der Matinee "Steinachschlucht oder Paris?" - Eine historische Debatte zum St. Galler Kantonsjubiläum. Mit Max Lemmenmeier, Matthias Weishaupt und Hans Fässler. Moderation: Peter Schweiger.]


„Wie einer Geburtstag feiert, zeigt, wer er ist. Oder jedenfalls, wofür er sich hält. Wie ein Kanton jubiliert, zeigt, welches Bild er von sich hat. Oder jedenfalls gern von sich hätte.“

Mit diesen Worten eröffnete kürzlich Kulturredaktor Peter Surber im St.Galler Tagblatt einen treffenden Kommentar zum bevorstehenden St.Galler Festspiel auf dem Klosterplatz.

Als Historiker frage ich im gleichen Sinn: Welches Bild oder welche Bilder wurden in der Vergangenheit vom Kanton St.Gallen gezeichnet?
Oder spezifischer:
- Welche Geschichtsbilder, welche historischen Vorbilder wurden jeweils von führenden Politikern identitätsstiftend ins Spiel gebracht?
- Vor welchem historischen Hintergrund wollten sie ihren Kanton zeigen und in welchem Licht hätten sie ihn gerne gesehen?
- Was und wer steht schliesslich hinter der Auswahl bzw. der Auslassung bestimmter Bilder?
[Ich spreche hier und im Folgenden ganz bewusst von Politikern. Es sind damit explizit nur Männer und keine Frauen gemeint.]

Dem Kanton St.Gallen, „diesem „homunculus, hervorgegangen aus der politischen Retorte Frankreichs“, wie das Wilhelm Ehrenzeller einmal umschrieb, fehlte so vieles, was im beginnenden Jahrhundert der Nationalstaaten dieses junge st.gallische Staatswesen historisch hätte untermauern könne.

Es gab ...
- keine gemeinsame Herkunft der St.Galler Bürger;
- keine althergebrachte, gemeinsame Geschichte des st.gallischen Staatsgebietes;
- keine kampferprobten Heldenväter als Inkarnationen st.gallischer Bürgertugenden;
- keine Gedenkstätten, die für den ganzen Kanton Gravitationszentren st.gallischer Erinnerungskultur hätten sein können.

Der neue Kanton hatte zwar eine Geschichte: Aber erstens eine sehr kurze und zweitens eine, die die politisch führenden Kreise bald nicht mehr wahrhaben wollten.

Im März 1803 war noch durchaus bewusst, dass die Gründung des Kantons St.Gallen in erster Linie etwas mit der Mediationsakte vom 19. Februar zu tun hatte. Und Napoleon wurde in einer von Müller-Friedberg verfassten Proklamation noch mit folgenden pathetischen Worten angerufen: (Zitat) „Dank sey dem erlauchten Vermittler, dass er unser Vaterland von dem Rande des Untergangs gerettet, dass er ihm eine Verfassung gegeben ...“ (Zitat Ende)

Schon wenige Jahre später war aber mit Napoleon kein Staat mehr zu machen. Und vom 19. Februar 1803 wollte man immer weniger und bald gar nichts mehr wissen.

In konkurrierendem Vergleich mit den anderen Kantonen suchte man nun eine neue Geschichte und andere Geschichtsbilder: Eine Geschichte, die nichts mit der Französischen Revolution und dem fremden Kriegsherrn Napoleon am Hut hatte. Eine altehrwürdige Geschichte, die in heroische Zeiten zurückreichte und die ihre Wurzeln in st.gallischen Landen hatte. Ein ursanktgallische Geschichte, die Kraft ihres Alters die Legitimität des neuen Kantons erhöhte.

Bei dieser „Sinnsuche im Vaterland“ sahen sich aber Politiker und Historiker im Kanton St.Gallen mit einem grundsätzlichen Problem konfrontiert:
- Wenn in St.Gallen der 19. Februar 1803 ausgeblendet wurde, war der neue Staat historisch schwer zu erklären. Da hatte es selbst der ebenfalls 1803 aufgrund der Mediationsakte gegründete Kanton Thurgau besser: Obwohl ehemaliges Untertanengebiet, kannte er wenigstens eine knapp 500jährige Geschichte in überlieferten Grenzen.
In der Schweiz nimmt eine überzeugende Kantons- und Staatsgeschichte ihren Anfang mit Gewinn im glorreichen Mittelalter. In jener Zeit, in der die alten Eidgenossen ihre Freiheit erkämpft hatten. Aus St.Galler Sicht bekundete man aber Mühe, hier Anknüpfungspunkte zu finden: Denn es fehlte sowohl eine siegreiche mittelalterlich Freiheitsschlacht als auch einen fürs Vaterland gefallenen Freiheitshelden:
- Die Urkantone der Innerschweiz waren mit Morgarten, Sempach, Tell und Winkelried konkurrenzlos und für St.Gallen unerreichbar.
- Die kleinen appenzellischen Nachbarkantone konnten identitätsstiftend an die Schlachten bei Vögelinsegg und Stoss und ihren Helden Ueli Rotach erinnern.
- Der ebenfalls 1803 gegründete Kanton Graubünden lebte ohnehin im Bewusstsein einer alten freien Republik und führte selbstbewusst die mittelalterliche Schlacht bei Calven und den Freiheitshelden Benedikt Fontana ins Feld.
- Selbst die Thurgauer hatten es besser: Auf ihrem Gebiet war 1499 die Schlacht bei Schwaderloh ausgetragen worden, in der sie auf Seite der Eidgenossen siegreich kämpften und starben.
- Und die St.Galler? Es gab wohl die Schlacht von Bad Ragaz im Jahr 1446. Doch in dieser Schlacht wie in den anderen mittelalterlichen Freiheitskriegen standen die St.Galler immer wieder auf der falschen Seite, auf der Seite der Habsburger, und mussten als Verlierer vom Platz. Damit liess sich keine Staatsgeschichte schreiben.
- Ein St.Galler Freiheitsheld, ....

- Ein St.Galler Freiheitsheld, der wie Winkelried, Fontana oder Ueli Rotach sein Leben für Freiheit und Vaterland geopfert hatte, war beim besten Willen nicht zu auszumachen. Kein Held, mit dem sich die Identität dieses heterogenen Kantons hätte fördern lassen.

Doch am Versuch, den jungen Kanton im Mittelalter zu verankern, wurde festgehalten.

[Festumzug 1953:]
Anschaulich zeigt dies der historische Festumzug von 1953. Er war bildhafter Ausdruck für die krampfhafte Suche nach mittelalterlichen Wurzeln:
- Folie: Der Graf von Toggenburg mit Ida von Toggenburg.
- ‡ Aus allen Gegenden wurden Figuren der mittelalterlichen Lokalgeschichte aufgeführt.
- Folie: Der Bannerträger des St.Anna-Schlosses.
- Folie: Der Minnesänger Konrad von Altstätten.
- [Aufzählung: Der Graf von Toggenburg mit Ida von Toggenburg. Der Bannerträger des St.Anna-Schlosses. Der Minnesänger Konrad von Altstätten.]
- ‡ Was hier im festlichen Umzug gezeigt wurde, war die Aneinanderreihung von Lokalgeschichte, keine Kantonsgeschichte St.Gallens.

Viel Platz wurde im Umzug auch dem Burgunderfähnlein eingeräumt:
- Folie: Burgunder-Zug.
- ‡ Denn es war historisch belegt, dass ein paar Dutzend Stadt St.Galler und eine kleine äbtische Truppe 1476 erfolgreich in den Burgunderkriegen mitgekämpft hatten.
- Folie: Hauptmann
- Damit konnte wenigstens in einem winzigen Punkt an die ruhmvolle Zeit des eidgenössischen Mittelalters angeknüpft werden.
- ‡ Stolz zeigten sich Hauptmann Varnbühler und sein Fähnrich [Folie: Fähnrich]. Demütig der Feldkurat [Folie: Feldkurat]. Dem Fussvolk wurde in der Presse weniger Aufmerksamkeit geschenkt.

- Folie: Johannes Kessler, Vadian und Josua Wetter.
- ‡ Aufwendig präsentierte sich auch die Gruppe „Vadian und die Zünfte“.
- Bei allen Bildern wurde peinlich genau darauf geachtet, dass die Rollen der Hauptfiguren mit Persönlichkeiten aus dem gehobenen Bürgertum besetzt werden konnten. Der Rechtsanwalt und Bürgerrat Dr. Curt Schirmer, der als Zunftmeister auftrat und für die Organisation dieser Gruppen die Verantwortung trug, meinte dazu: [Zitat] „Ich habe mich bemüht, meine Freunde aus der Burgergesellschaft, die damit alle ortsbürgerlichen alten Geschlechtern angehört haben, zu bitten, diese Rollen zu übernehmen.“ [Zitat Ende]
- Folie: Zunftmeister zu Nothenstein.

- Folie: Zunftmeister zu Nothenstein.
- ‡ Als Zunftmeister der Gesellschaft zum Nothenstein sah man beispielsweise hoch zu Ross den Arzt Dr. Richard von Fels, bewirtet von einer einfachen St.Gallerin, zu Fuss. Die personelle Besetzung der Historiengruppen zeigte so ein Abbild der sozialen Ordnung der Gegenwartgesellschaft und legitimierte diese Gesellschaftsordnung historisch.

Allerdings: Das Problem einer fehlenden gemeinsamen st.gallischen Geschichte war mit dem Burgunderfähnlein, den Reformatoren und den städtischen Zünften nicht gelöst. Das war Stadtgeschichte. Die Kantonsgeschichte blieb Stückwerk. St.Gallisches Identitätsbewusstsein – von Rorschach bis Rapperswil, von Pfäfers bis Wil – konnte damit nicht geschaffen werden.

Einen Ausweg suchte man, indem der Festumzug vor fünfzig Jahren unter das Motto „Einheit in der Vielfalt“ gestellt wurde. Am nächsten Dienstag heisst das Motto beim Festspiel auf dem Klosterplatz: „Vielfalt macht stark.“

Steht es so nach fünfzig Jahren mit dem St.Galler Identitätsbewusstsein, fragt man sich.

Die neuere Geschichte wurde im Festumzug von 1953 nicht ganz ausgespart:
- Folien: 4x Militär.
- ‡ Viel Militär marschierte auf. Zu sehen waren:
- Truppen von 1803, 1914 und 1953. Abgerundet mit dem Frauen-Hilfsdienst und den Standarten der St.Galler Grenzkompagnien.

- Folie: Gossauer Freiheit
- ‡ Sogar ein Schild mit der Aufschrift „Liberté Egalité Fraternité“ wurde mitgetragen. Die Bedeutung der Französischen Revolution für die St.Galler Staatsgründung wurde aber mit der Gruppe „Gossauer Freiheit“ auf ein rein lokalhistorisches Ereignis reduzierte.

Und die Bilder aus dem Mittelalter dominierten den Jubiläumszug unübersehbar. Und nicht zu kurze kamen Szenen aus dem Klosterleben:
- Folien: Klosterschule + Äbtisches Kornschiff.
- Folien: Einzug des Fürstabtes in Will + Äbtischer Fischer.
- ‡ Dabei war ja gerade die Aufhebung des Klosterstaates eine unmittelbare Folge der Kantonsgründung gewesen. Unverkennbar zeigt sich das Geschichtsbild einer CVP-dominierten Festorganisation: Die revolutionären-kriegerischen Anfänge des Kantons wurden überblendet von Bildern, die den Keim st.gallischer Staatswerdung in geheiligten fernen Zeiten des Mittelalters ansiedelten.

Weil man von Revolution, Krieg und Napoleon als konstitutive Elemente der St.Galler Staatsgründung partout nichts wissen wollte, wurde sehr früh schon in der Figur von Gallus ein Fluchtpunkt gesehen:
- Folie: Der heilige Gallus
- ‡ Bereits im Jahr 1809 hatte Müller-Friedberg Gallus als „Stifter unseres Landes“ bezeichnet und die Zelle des ersten St.Galler Mönchs zur Urzelle des Kantons St.Gallen erkoren.
- Das heisst: Schon sechs Jahre nach der Kantonsgründung hatte der heilige Gallus den kriegerischen Napoleon von der St.Galler Historienbühne verdrängt. Und Gallus sollte diesen Platz während der folgenden knapp 200 Jahren nicht mehr abgeben.
- Dabei hätte doch Napoleon und seine Minister in jedem Festumzug und in jedem Festspiel ein farbenprächtiges, imposantes Historienbild abgegeben. Und den wahren Hintergründen der Kantonsgründung wäre man damit bedeutend näher gekommen.
- Es wollte und sollte nicht sein: Psychologisch gesehen müssen wir uns fragen, ob dieser Kanton nicht erst dann zu seiner Identität finden wird, wenn er sich zu seiner wahren Mutterschaft – der Französischen Revolution – und seiner Vaterschaft – Napoleon – bekennen kann.

Dazu sind wohl noch verschiedene Therapien notwendig, und Veränderungen in der Erinnerungskultur, die wahrlich revolutionär anmuten würden. Zum Beispiel in der Praxis der Strassenbenennungen in der Stadt:
- Strassennamen dienen nicht allein der räumlichen Orientierung, sondern fixieren im Stadtbild auch bestimmte Vorstellungen der Vergangenheit.
- Die Wahl von Strassennamen ist eine Form öffentlich gemachter Geschichte, die zeigt, dass die Durchsetzung eines bestimmten Geschichtsbildes letztlich immer eine Frage der Machtverhältnisse ist. Die Vorgeschichte, die zur Benennung eines Paul-Grüninger-Platzes in der Stadt St.Gallen führte, zeigte dies kürzlich exemplarisch.
- Erhöhte Brisanz erhalten Strassenbenennungen dann, wenn damit einem neuen Geschichtsbild anstelle eines alten Platz gemacht werden soll. Im Wortsinn revolutionär wäre die 1985 von der Anti-Apartheidbewegung St.Gallen geforderte Umbenennung der „Krügerstrasse“ in „Mandela-Strasse“ gewesen. Dazu ist es leider nur verübergehend gekommen.
- Revolutionär für die Topografie der st.gallischen Erinnerungslandschaft wäre es auf jeden Fall auch, wenn in nächster Zeit die „Müller-Friedbergstrasse“ in „Napoleonstrasse“ und der „Gallusplatz“ in „Platz des 19. Februars“ umbenannt würden.

Wir werden es sehen.
Ich komme zum Schluss:

Während fast 200 Jahren sind im politischen Diskurs der 19. Februar 1803 und Napoleon im Zusammenhang mit der Kantons-gründung weitgehend aus dem Bewusstsein verdrängt worden. Um so überraschender war es, als der St.Galler Regierungsrat Ende des letzten Jahres für Mitte Februar eine Reise nach Paris ankündigt hatte. Den historisch unbestritten bedeutsamen Ereignissen von Mitte Februar 1803 wurde nun plötzlich wieder eine politische Relevanz zugeschrieben.

Ob bereits von einem Wandel in der offiziellen, staatstragenden Geschichts- und Gedächtnis-kultur gesprochen werden kann, ist fraglich. Regierungsratspräsident Peter Schönen-berger soll zwar anlässlich des Festaktes in der französischen Hauptstadt gesagt haben: (Zitat) „Wir alle haben in Paris irgendwie unsere politischen Wurzeln.“ (Zitat Ende) Das Wort „irgendwie“ verrät aber noch eine gewisse Skepsis und Zurückhaltung gegenüber diesem neuen Geschichts-bild.

Wenn es sich hier aber wirklich um Anzeichen einer sich ändernden Erinnerungskultur handelt, stellt sich weiter die Frage, wie es zu dieser Wende kommen konnte:
- War es die neue St.Galler Kantonsgeschichte, die zwar erst im Herbst erscheinen wird, deren Beiträge aber bereits seit zwei, drei Jahren vorliegen und die hinter den Kulissen schon eifrig studiert wurden?
- War es der neue Bundespräsident Pascale Couchpin, der sich als Napoleon-Bewunderer geoutet hatte und der die Delegation nach Paris anführte?
- War es Hans Fässler, der als glühender Patriot seit Beginn seiner Recherchen für das politische Kabarett „Louverture stirbt 1803“ den jubilierenden Kanton und seine Regierung vor den schlimmsten Peinlichkeiten zu bewahren versuchte?

Die Feier am 15. April im Zentrum des untergegangenen äbtischen Klosterstaats konnte auch er nicht mehr verhindern. Aber er hat wohl Entscheidendes dazu beigetragen, dass der 19. Februar 1803 nicht ganz aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt wurde.

Ob sich nun mit und nach dem Kantonsjubiläum die st.gallische Gedächtnis-kultur ändert und wir in politischen Reden, Festspielen, Schulwandbildern, Denkmälern oder Strassenbe-zeichnungen neue identitätsstiftende Bilder sehen werden, wird sich zeigen.

Historisch-wissenschaftlich ist auf jeden Fall schwer zu leugnen, dass die Gründung des Kantons St.Gallen historisch besser und aufrichtiger mit der Französischen Revolution, Paris und Napoleon als mit der Steinachschlucht, Gallus und dem Bären zu erklären ist.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Jubiläumsjahr und danke für die Aufmerksamkeit.