Wofür ist das Fach Geschichte gut?

Gemeinderat will keinen Bericht über die Verflechtung
von St. Galler Handelsherren mit der Sklaverei

Die Aufarbeitung der Verstrickung der alten Stadt St. Gallen mit der
Sklaverei findet vorläufig nicht statt. Das Stadtparlament hat gestern
die Überweisung eines Postulats, das genau dies verlangte,
abgelehnt.

RETO VONESCHEN

Inwieweit haben St. Galler Kaufleute im 18. Jahrhundert von der
Sklaverei profitiert? Wie weit waren diese Handelsherren in den
Menschenhandel verstrickt? Müssen wir dieses dunkle Kapitel der
Geschichte aufarbeiten, den Opfern Respekt zollen und
Wiedergutmachung leisten?

Diese Fragen sind heikel und rühren an den Gemütern. Das wurde
gestern bei der Debatte eines Postulates von Bea Heilig (PFG) - und
danach im Vorraum zum Ratssaal, wo die Diskussion fortgesetzt
wurde - deutlich. Der Vorstoss wollte den Stadtrat beauftragen, über
das Thema zu berichten und Anträge zu stellen. Das Resultat
vorneweg: Das Postulat wurde gemäss Antrag des Stadtrates nicht
überwiesen. Der links-grüne Block unterstützte die Idee von Bea
Heilig. CVP, FDP und SVP lehnten sie ab. Allerdings enthielten sich
am Schluss bei CVP und FDP einige Fraktionsmitglieder der Stimme.

Indirekt profitiert

Für den Stadtrat ist die Aufarbeitung von St. Galler Profiten aus der
Sklaverei durchaus ein Thema. Stadtpräsident Heinz Christen zitierte
das Stadtarchiv, das in einem Text Hintergründe der Verflechtung
städtischer Handelshäuser mit der Sklaverei in Übersee beleuchtet
hat. Fälle, in denen St. Galler Kaufleute mit Ausrüstung eines
Sklavenschiffes direkt am Menschenhandel beteiligt waren, sind
bisher nicht belegt. Bekannt ist dagegen, dass wohlhabende St. Galler
Familien Plantagen in Übersee besassen, auf denen es Sklaven gab.
Bekannt ist auch, dass für stark wachsende Vermögen im frühen 18.
Jahrhundert auch in St. Gallen Anlagemöglichkeiten gesucht wurden,
die sich im Umfeld des Sklavenhandels fanden. Für den Stadtrat
können die Fragen, die sich damit der heutigen Generation stellen,
nicht von einer Stadt im Alleingang aufgearbeitet werden. Die
Erforschung des Themas müsse im gesamtschweizerischen
Zusammenhang erfolgen. Und falls eine solche angesichts der
verschiedenenorts laufenden politischen Debatte zustande komme,
sei eine ideelle und finanzielle Beteiligung der Stadt St. Gallen
«angesichts des möglichen Erkenntnisgewinns denkbar».

Gegen «Sippenhaftung»

Markus Morant (CVP) wies den Vorstoss namens seiner Fraktion
vehement zurück: Es gehe nicht an, die Namen von Familien in den
Raum zu stellen, deren Vorfahren angeblich von Sklaverei profitiert
hätten. Es gebe keine Sippenhaftung für etwas, was vor 200 Jahren
geschehen sei. Zudem hafte die Stadt nicht für Fehlverhalten einzelner
Bürger. Und wie weit, man denn zurückschauen wolle, fragte Morant -
und wies darauf hin, dass auch mit Napoleon noch Rechnungen offen
seien. Robert Guggenbühl (FDP) anerkannte, dass die Sklaverei ein
Verbrechen gewesen sei. Es sei aber abstrus, daraus eine
Verantwortung für die Stadt zu konstruieren. Wir müssten in die
Zukunft und nicht zurück schauen. Fredy Brunner (FDP) kritisierte den
Unterton des Postulates: Das töne weniger nach Aufarbeitung, als
vielmehr nach Vorverurteilung. Ob das Gerechtigkeit und Frieden
bringe, sei zu bezweifeln. Er persönlich könne so einen Text nicht
unterstützen.

Auf andere Kulturen zugehen

Postulantin Bea Heilig (PFG) und Albert Nufer (Grüne) votierten für die
Überweisung des Postulates. Die Aufarbeitung der Geschichte sei
unabdingbare Voraussetzung dafür, dass wir «im globalen Dorf» in
gutem Einvernehmen mit anderen Kulturen zusammenleben und
-arbeiten könnten, betonte Bea Heilig. Und Albert Nufer stellte die Idee
in den Raum, eine Wiedergutmachung könne über eine Partnerschaft
mit einer Gemeinde in der Dritten Welt erfolgen. Susi Tapernoux (EVP)
fand zwar die Idee der Aufarbeitung der Geschichte und des Ziehens
von Lehren daraus für Gegenwart und Zukunft wichtig. Das sei aber
wichtiger, als abzurechnen - und votierte für ein Nein zum Postulat.

Eine Diskussion auslösen

Max Lemmenmeier lief als SP-Fraktionssprecher (und Historiker) zu
Hochform auf. Das Fach Geschichte werde betrieben, um
Gerechtigkeit und Versöhnung zu erreichen. Wenn man dem Aufruf
von CVP und FDP folge, bei unangenehmen Themen doch lieber in
die Zukunft zu blicken, brauche man keine Geschichtsschreibung
mehr. Zur Versöhnung komme man, wenn man das Geschehen
anerkenne, die Opfer der Tragödie ehre sowie Bedauern, Trauer und
Reue zeige. Die Geschichtsschreibung sei auch im Fall der Sklaverei
dazu da, eine Diskussion auszulösen. Wenn man die Verflechtungen
konkret kenne, könne man über Wiedergutmachung - in irgendeiner,
auch in symbolischer Form - diskutieren. Und, so betonte
Lemmenmeier, es gehe nicht darum, mit Fingern auf Nachkommen
der betreffenden Handelsherren zu zeigen. Namen habe man im
Postulat nur nennen müssen, um zu zeigen, wie eng die Verflechtung
der alten Textil- und Handelsstadt St. Gallen mit der Sklaverei eben
gewesen sei.