Kantonsrat St. Gallen
Interpellation Linder-Schmerikon vom 18. Februar 2003

Schweizer und St. Galler Beteiligung an Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven

Im Zusammenhang mit der Diskussion, welche an der UNO-Konferenz von Durban über afrikanische Entschädigungsforderungen an die Adresse Europas geführt wurde, wurde in der Schweiz einmal mehr die Überzeugung deutlich, dies alles gehe unser Land nichts an, weil wir mit Sklaverei, Sklavenhandel und Kolonialismus nichts zu tun gehabt hätten. Dabei haben namhafte Historiker gezeigt, dass über die grossen seefahrenden Nationen Spanien, Portugal, England, Frankreich und Holland hinaus der ganze europäische Kontinent durch ein weitreichendes Netz von Handels- und Finanzbeziehungen in den Dreieckshandel Europa-Afrika-Amerika-Europa mit einbezogen war, ja dass der wirtschaftliche Aufschwung Europas vom 16. bis 19. jahrhundert bis hin zur Industrialisierung zu einem beträchtlichen Teil auf diesen spezifischen ökonomischen Beziehungen und damit auch auf Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven beruhte.

Darüber hinaus führt nun aber schon ein lediglich kursorisches Studium verschiedener Werke und Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 18. Jahrhundert sowie eine Neulektüre älterer Standardwerke zur überraschenden Erkenntnis, dass die schweizerische Verflechtung mit Sklaverei und Dreieckshandel weit enger war als bisher bekannt. So finden sich in praktisch allen relevanten Tätigkeiten des Handels mit Sklavinnen und Sklaven schweizerische Akteure: vom Gründer einer Sklavenhandelsburg vor der Küste Afrikas über den Reeder, Financier, Versicherer und Aktienbesitzer von Sklavenschiffen bis hin zum Besitzer oder Aufseher von Plantagen, zum Offizier und Soldaten im Kampf gegen revoltierende Sklavinnen und Sklaven und schliesslich zum Kaufmann im Geschäft mit Gütern für den Dreieckshandel (Textilien) und Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Baumwolle, Indigo).

Auch die Region des heutigen Kantons St. Gallen war in dieses schweizerische und europäische Netz von Finanz- und Handelsbeziehungen einbezogen. Dabei ist vor allem auf St. Galler Familien mit den Namen Rietmann, Högger und Schlumpf hinzuweisen, die alle in Surinam Plantagen samt den dazu gehörenden Sklavinnen und Sklaven besassen. Einer Familie Züblin gehörte zudem das Plantageunternehmen "Züblins Lust" (!). Einige angesehene schweizerische Kaufleute und deren Familien oder Dynastien haben ausserdem durch mehr oder weniger direkte Beteiligung am Dreieckshandel teilweise Profite aus dem transatlantischen Handel mit Sklavinnen und Sklaven gezogen. Es betrifft dies u.a. die Escher und (ZH), Rieter (ZH), Zellweger und Wetter (AR), Kunkler und Zollikofer (SG), Amman (SH), de Pury, Pourtalès, Favre und Rossel (NE) sowie die Labhardt und GonzenbachGoneznbach (TG).

Ich ersuche die Regierung um die Beantwortung der folgenden Fragen:

1) Wie bewertet die Regierung die Tatsache, dass Teile der früheren schweizerischen und sanktgallischen Wirtschaft und Gesellschaft vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts offenbar viel enger mit der Sklaverei in der Neuen Welt und dem dazugehörigen transatlantischen Handel mit Sklavinnen und Sklaven verknüpft waren als es der öffentlichen Meinung und der Geschichtsforschung bisher bewusst war?

2) Ist die Regierung bereit, angesichts der Tatsache, dass von afrikanischer Seite aus nicht nur immer deutlicher der Ruf nach Aufarbeitung und Entschädigung der europäischen (und arabischen) Beteiligung an Sklaverei und Kolonialismus, sondern auch nach eigenverantwortlichem Handeln seitens der afrikanischen Zivilgesellschaften ertönt, die oben skizzierte Verknüpfung sanktgallischer Familien und Unternehmen mit Sklaverei und transatlantischem Handel mit Sklavinnen und Sklaven aufarbeiten zu lassen oder diesbezügliche Bemühungen seitens schweizerischer oder anderer HistorikerInnen zu unterstützen?

3) Die Schweiz hat 2001 mit der Schlusserklärung der UNO-Konferenz von Durban folgende Aussage mitunterzeichnet: "Wir bedauern, dass Sklaverei und Sklavenhandel entsetzliche Tragödien der Menschheitsgeschichte waren; nicht nur wegen ihrer abscheulichen Barbarei, sondern auch angesichts ihres Ausmasses, der Art ihrer Organisation und vor allem der Negierung des Wesens der Opfer. Wir erkennen ferner an, dass Sklaverei und Sklavenhandel ein Verbrechen gegen die Menschheit sind..." – Ist die Regierung bereit, Vorstellungen zu entwickeln, wie sich der Kanton St. Gallen an einer Wiedergutmachung und einer symbolischen Geste seitens der Schweiz beteiligen könnte, sollte eine Aufarbeitung die These von der weit reichenden schweizerischen Mitbeteiligung bestätigen?