Eine Jahrtausend-Abrechnung?

Wiedergutmachung kann deshalb - als eine Grundbedingung des Zusammenlebens - nicht einfach zu den Akten gelegt werden, und vielleicht entdeckt ja Südafrika, ungeachtet der Neigung unserer Autoren, Dichter und Weisen der Vergebung - Wilham Conton (»The African«), Uopold Sedar Senghor, Tierno Bokar (»Der Weise von Bandiagara«), James Baldwin (»Blues für Mr. Charlie«) und all die anderen -, die Menschen edler erscheinen zu lassen, als sie sind, dass das Land letztendlich doch nicht um eine Formel herumkommt, die den zwingenden Geboten der elementaren Gerechtigkeit von Wiedergutmachung entspricht. Es sollte jedenfalls nicht jenseits der Vorstellungskraft der beschuldigten gesellschaftlichen Gruppe selbst liegen, auf die heroische Großzügigkeit der Opfer mit einem ebenso heroischen Akt der Buße zu antworten, auf derart einfallsreiche Art und Weise zum Ausdruck gebracht - wie bereits gesagt -, dass sie sowohl die moralische als auch die materielle Wiedergut machung beinhaltet; die letztere kann ihre Verwirklichung in sozialen Szenarien finden, die deutlich als solche identifiziert werden. Ein Verzicht darauf provoziert eine Interpretation, durch die das Verbrechen noch nachträglich gebilligt wird - eine gefährliche Wahrnehmung, die eines Tages unerwartet eine lange schlafende Saat des Hasses und des Unmuts innerhalb der Opfergruppe wieder aufkeimen lassen könnte. Die rassische Pathologie jener einstigen Sklavengesellschaft, der Vereinigten Staaten, stellt eine Warnung dar, die sich nur unter größter Gefahr verkennen lässt. In dem Maße, in dem die Welt näher zusammen rückt - der Ausdruck »globales Dorf« wurde ja nicht umsonst zu einer gängigen Münze - scheint es nur natürlich, sich die Punkteliste der Beziehungen aufeinander treffender Gemeinschaften einmal genau anzusehen. Dort, wo es Ungleichheit gegeben hat, und vor allem Ungleichheit einer besonders verrohenden Art, der Art, durch die eine Seite ihrer fundamentalsten Rechte beraubt wird - ihres Menschseins -, da scheint es nur angemessen, dass eine gewisse Art der Genugtuung stattfindet, um eben diese Vergangenheit auszutreiben. Wiedergutmachung dient, das möchten wir noch einmal wiederholen, als eine überzeugende Kritik der Geschichte und somit als ein starkes Hemmnis gegen Wiederholung. Es ist unmöglich, das Beispiel der Juden zu ignorieren und die besessene Entschlossenheit der Überlebenden des Holocaust, sowohl ihr materielles Erbe als auch ihr Menschsein, dessen sie auf brutale Weise beraubt worden waren, wiederzuerlangen.

Alle Versuche, jetzt eine spitzfindige, Schuld tilgende Unterscheidung - wie etwa das Zeitargument - zwischen den Erben eines Verbrechens gegen die Rasse - die jüdische gegenüber der schwarzen Rasse zum Beispiel - als Hindernis aufzubauen, sind voller historischer Fallgruben und müssen hier noch kurz erwähnt werden, bevor wir diesen Teil unserer Betrachtungen abschließen. Grundsätzlich sollte dies ja keine Übung in miteinander konkurrierenden Interessen sein, sondern vielmehr eine ernsthafte Hinterfragung des Vorhabens der Versöhnung. Denn die zeitliche Nähe oder Ferne eines Verbrechens, dessen Auswirkungen in der Gegenwart noch erkennbar sind, ist kein Argument für oder gegen die Rechtmäßigkeit der Forderung nach Wiedergutmachung.

Die praktischen Konsequenzen dieser Forderung bleiben natürlich die am meisten problematischen, ja, sie sind nahezu entmutigend. Ich habe einmal vorgeschlagen, die versklavenden Nationen sollten einfach die Schulden Afrikas erlassen, und wir würden im Gegenzug die nicht in Zahlen zu bemessende Ungerechtigkeit erlassen, die dieser Welt durch die heutigen Nutznießer des Sklavenhandels angetan wurde. Auf diese Weise könnten wir uns mit einer Tafel in ein neues Jahrtausend hineinbegeben, die von den schwärenden Wunden der Vergangenheit reingewischt wäre. Wir könnten uns dann in der Tat daran machen, unser Zeitalter »das Jahrhundert - oder das Jahrtausend - der globalen Annullierung« zu nennen. Mein Vorschlag schien aber, so muss ich zugeben, keinen besonderen Eindruck auf die Zusammenkunft der dickköpfigen Geschäftsführer der Weltbank zu machen, an die dieser Vorschlag gerichtet war. Und aus einem bestimmten Blickwinkel heraus scheint ein solcher Vorschlag in der Tat auch unausgewogen zu sein, weil er die Unvorsichtigen unter den afrikanischen Nationen profitieren ließe, während er gleichzeitig die wirtschaftlich Klugen benachteiligte. Die offensichtliche Antwort hierauf ist die: Es waren ja nicht Regierungen, die versklavt wurden, sondern vielmehr die Völker, und gegen die Völker wird (und dies sowohl von ihren früheren wie auch ihren heutigen Herrschern) viel mehr gesündigt als dass die Völker selber sündigten.


[Wole Soyinka, Die Last des Erinnerns: Was Europa Afrika schuldet - und was Afrika sich selbst schuldet, Regensburg 2001, S. 89-91, englisch: The Burden of Memory - The Muse of Forgiveness, New York 1999]