"Ochan pou batay!" - Zusammenfassung der Woche

Montag, 17. November 2003
Ankunft am Flugplatz "Toussaint Louverture" und durch die "Diplomatentür" an wartenden Haitianerinnen und Haitianern vorbei in den "VIP-Room". Von dort werde ich von einem Chauffeur des Aussenministeriums abgeholt und in einem schwarzen Merdeces durch die Armut von Port-au-Prince hindurch zum Aussenministerium am Boulevard Harry Truman - Bicentenaire gefahren. Dort ist entschieden worden, dass ich nicht im Hotel Le Plaza am Champ de Mars, dem wichtigsten öffentlichen Platz von Port-au-Prince, untergebracht bin, sondern im Hotel Montana, einem der besten Hotels überhaupt. Fahrt durchs Elend ins Hotel auf dem Hügel mit Blick auf Port-au-Prince und die Meeresbucht. Versuch, den Kulturschock zu verarbeiten...

Von Aussenminister Antonio erfahre ich am Telefon, dass entgegen der bisherigen Information ein Besuch an den Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Schlacht von Vertières (entscheidender Sieg gegen die Franzosen am 18. November 1803) für mich nicht vorgesehen ist. Das heisst, dass ich "frei" habe, und so verabrede ich mich mit meinem haitianischen Freund Ronald Sabbat für einen Ausflug in seine Heimatstadt Jacmel.


Dienstag, 18. November 2003
Die Regierung ist an diesem Tag etwas nervös und befürchtet Kundgebungen oder Aktionen der Opposition. Auf dem Weg zum Stadtzentrum wird unser Taxi ("tab-tab") an einer bewaffneten Strassensperre angehalten und kontrolliert. Am "Gare du Sud", einer Mischung aus Busbahnhof und Strassenmarkt, nehmen Ronald und ich einen Bus, der für etwa 10 Personen gebaut ist, heute aber etwa das Doppelte transportiert. Eindrückliche und lange Fahrt durch das Stadtzentrum von Port-au-Prince und den Stadtteil Carrefour dem Meer entlang gegen Westen. Die Fahrt über die Hügel und Berge nach Jacmel an der Südküste Haitis gibt dann einen ersten Eindruck vom ländlichen Haiti.

Jacmel, das im Roman "Hadriana dans tous mes rêves" von René Depestre seine beste Zeit bereits hinter sich hatte, macht einen sehr armseligen Eindruck. Ronald zeigt mir den Strand (wo ein riesiges gestrandetes Schiff vor sich hinrostet) und fährt mich mit dem Töff an einen weiteren Strand, wo ein wenig (haitianisches) Strandleben statfindet. Die Rückfahrt dauert rund drei Stunden, weil wir in Carrefour in einen grossen Stau geraten, der durch einen Unfall verursacht wurde. Im Schritttempo geht es bei einbrechender Dunkelheit und grosser Hitze mit dem völlig überfüllten Bus zurück zum Stadtzentrum und dann mit einem weiteren "Tap-Tap" zum Hotel. Am Abend schaue ich mir die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Schlacht bei Vertières im Fernsehen an.


Mittwoch, 19. November 2003
Am Vormittag nehme ich im Hotel Le Plaza an der Eröffnung des Seminars "Pour un Financement au Service du Développement Rural" teil, welches vom KNPF ("Konsey Nasyonal Finansman Popilé") organsiert wird und wo auch Paola Iten im Vorstand sitzt. Nach langer und komplizierter Einschreibephase beginnt das Seminar mit einer Schweigeminute für Danielle Lustin, die Vizepräsidentin des KNFP, die eine Woche zuvor in ihrem Haus in Pétionville ermordet worden ist. Ich treffe am Seminar auch den Minister für Planung, Paul Duret, und bespreche mit ihm die technischen Details für meinen Auftritt mit "Louverture stirbt 1803" am Freitag.

Am Mittag findet mit einem Essen die Eröffnung der "Interministeriellen Konferenz über Restitution und Entwicklung" statt. Ort ist die Terasse des Hotels Olofson, wo Graham Greene seinen Roman über die Duvalier-Diktatur schrieb ("The Comedians"). Die Leitung hat der Minister für Haitianer im Ausland, Leslie Voltaire; eine wichtige Rolle spielt der gouadeloupianische Autor Claude Ribbe, der soeben den Roman "L'Expedition" über die militärische Kampagne des Generals Leclerc herausgebracht hat. Mit dabei sind u.a. noch Gilbert Bazabas vom Ministerium für Haitianer im Ausland (der über die Geschichte der polnischen Legion unter Leclerc geforscht hat) und Francis St-Hubert, ein Ökonom und Arzt, der als erster die Summe der "dette de l'indépendance" von 90 Millionen Goldfranc auf den heutigen Wert von 21 Milliarden US-Dollards umgerechnet hat.

Am Nachmittag geht die Diskussion im Aussenministerium weiter, wo wir von Aussenminister Antonio kurz begrüsst werden. Ich werde dann zum haitianischen Fernsehen (TNH) gefahren, wo ein 20-minütiges Interview aufgezeichnet wird. Es wird am Abend gesendet.



Donnerstag, 20. November 2003
Am Morgen habe ich kein offizielles Programm, und ich gehe zu Fuss einige Kilometer auf der Avenue John Brown in Richtung Stadtzentrum und wieder zurück. Es hat geregnet und die Strasse ist zum Teil mit abgerutschter Erde und Abfall bedeckt. Ich mache ein paar Fotos.

Am Mittag geht die Konferenz im Hotel Olofson weiter und dauert den ganzen Nachmittag. Diskutiert wird vor allem die Frage einer Reparationsklage gegen Frankreich wegen der Sklaverei und das Verhältnis einer solchen Klage zur Forderung nach Rückerstattung ("Réstitution") der Unabhängikeitsschuld.


Freitag, 21. November 2003
Am Vormittag sind Mitglieder unserer Kommission ins "Lycée Marie Jeanne" eingeladen, um dort vor etwa 300 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten aus ganz Port-au-Prince über die Frage der Réstitution zu sprechen. Nach kurzen Statements von Francis St-Hubert, Claude Ribbe und mir folgt eine lange Fragerunde, welche die ganze historische, politische und psychologische Problematik der Restitutions-Debatte aufzeigt.

Nach dem Mittagessen im Hotel Tiffany werden wir zu einem Empfang bei Staatspräsident Aristide abgeholt. Das Palais National ist ausserordentlich gut bewacht und durch viele Sicherheitsschranken abgeriegelt. Am Empfang von rund einer Stunde sind Francis St-Hubert, Claude Ribbe, eine Sekretärin und ich beteiligt. Wir diskutieren über die juristische und die Medienstrategie in Sachen Réstitution und vor allem auch über die Rolle der Kommission von Régis Debray. Aristide möchte der Kommission Debray im Dezember eine internationale-haitianische Kommission gegenüberstellen und lädt uns alle auf den 15. Dezember 2003 nach Port-au-Prince ein. Ich muss ihm leider absagen.

Am Abend spiele ich auf Französisch vor rund 200 Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern ("Bekämpfung der ländlichen Armut") aus Afrika, Lateinamerika und der Karibik 20 Minuten aus meinem Programm "Louverture stirbt 1803", anschliessend nochmals für eine zu spät gekommene Gruppe aus dem Seminar "Pour un Financement au Service du Développement Rural" einen 40-minütigen Ausschnitt. Die Leute sind sehr konzentriert und interessiert, lachen manchmal und stellen anschliessend höchst spannende und anspruchsvolle Fragen.


Samstag, 22. November 2003
Ich habe am Vormittag frei, lese Zeitungen, in einem Buch über die Geschichte Haitis und schaue fern. Auf dem regierungsnahen Sender wird die Vertières-Schlachtfeier immer wieder gezeigt, dazwischen gibt es Clips mit der Botschaft "ELEKSYON OUI - KUDETA NON!" (Französisch: "Election oui, coup d'état non!", Deutsch: "Wahlen ja, Staatsstreich nein!").

Nach dem Mittag kommt Ronald und begleitet mich in die Stadt, wo wir einen CD-Laden besuchen, über das Champs de Mars mit all seinen Statuen ("Verfassung von 1801", "Toussaint Louverture", "Henri Christophe", "Alexandre Pétion", "Jean Jacques Dessalines" und "Le Marron Inconnu") spazieren und im Museum der Geschichte Haitis u.a. den Anker desjenigen Schiffes von Kolumbus anschauen, das 1492 an der Nordküste von Hispaniola Schiffbruch erlitt. Am Abend esse ich mit Ronald im Hotel Montana und versuche, mit ihm zusammen meine Eindrücke etwas zu ordnen.


Sonntag, 23. November 2003
Besuch bei der unverwüstlichen Paola Iten in ihrem Haus im Quartier "Pétionville". Sie erzählt mir Geschichten aus ihrem Leben in Haiti seit 1970; aus der Zeit, als Aristide noch ein kleiner Priester war; von Jean-Marie Vincent, dem 1994 ermordeten Priester; vom Massaker an den Bauern von Jean Rabel; von den Besuchen von Ruth Dreifuss; von der Zeit, als sie untertauchen musste; von Projekten, an denen sie unermüdlich immer weiterarbeitet und von neuen Projekten. Ich bin sehr beeindruckt. Zusammen fahren wir zum Flughafen und fliegen gemeinsam nach Miami, wo sie Freunde trifft, ihren Rundbrief gestalten und ihre Reise ans Sozialforum im Januar 2004 in Indien planen will. Ich fliege zurück in die Schweiz, wo ich am Montag mittags ankomme und den zweiten Kulturschock zu verabeiten habe. Dies dauert noch an.

Hans Fässler, Dezember 2003