"Restitisyon!" - Der Anlass zur Reise

Im September 2003 wurde mir vom haitianischen Honorarkonsul in Zürich, Herrn Brave Hyppolite, mitgeteilt, ich sei vom haitianischen Aussenministerium zu einer Konferenz in Port-au-Prince eingeladen worden, welche sich mit "Sklaverei, Restitution und Reparation" befasse. Die Konferenz finde im Oktober statt.

Ich hatte mich zu Anfang der Recherchen zu meinem Kabarettprogramm "Louverture stirbt 1803" einmal an die haitianische Delegation bei der UNO in Genf gewandt und vom damaligen Leiter Joseph Ph. Antonio Antwort bekommen: Man sei sehr an meinem Projekt interessiert und habe auch noch Bilder und Material zu Toussaint Louverture. Joseph Ph. Antonio war dann zum haitianischen Aussenminister ernannt worden und nach Haiti zurückgekehrt, von wo aus er sich via meine Website über den Fortgang meines Projekts auf dem laufenden hielt.

Im April 2003 sprach der haitianische Präsident Jean-Bertrand Aristide anlässlich des 200. Todestages von Toussaint Louverture erstmals öffentlich die Forderung nach der "Réstitution" aus. Damit ist die Wiedergutmachung eines kolossalen und welthistorisch wohl einmaligen Unrechts gemeint: Als Haiti in einem grossartigen und äusserst blutigen Revolutions- und Befreiungskrieg das französische Kolonialjoch abgeschüttelt und sich am 1. Januar 1804 für unabhängig erklärt hatte, wurde diese Unabhängigkeit von Frankreich (und natürlich auch von den übrigen Staaten) nicht anerkannt. Im Gegenteil: Das postrevolutionäre, monarchische ehemalige Mutterland wollte sich die "Perle der Antillen" früher oder später zurückholen und dort die Sklaverei wieder einführen, die ja in den übrigen Kolonien (z.B. Guadeloupe und Martinique) noch bis 1848 weiterbestehen sollte.

So begannen Verhandlungen zwischen Frankreich und Haiti, welche 1825 darin gipfelten, dass sich der damalige haitianische Präsident Boyer mit der Alternative konfrontiert sah, entweder der Bezahlung einer "Entschädigungssumme" für die Verluste der französischen Plantagenbesitzer und damit der Anerkennung der Unabhängigkeit zuzustimmen oder aber die Beschiessung vom Port-au-Prince durch die vor dem Hafen ankernde französische Kriegsflotte zu riskieren. Boyer unterzeichnete und verpflichtete sein Land zur Bezahlung von 150 Millionen Goldfranc, einer enormen Summe, die schliesslich angesichts der offensichtlichen Zahlungsunfähigkeit Haitis auf 90 Millionen reduziert wurde. Diese 90 Millionen hat das Land, das zuvor ein Jahrhundert lang als Sklaven- und Sklavinnenkolonie ausgebeutet wurde und 1804 gewissermassen bei Null bzw. unter Null anfangen musste, bis auf den letzten Rappen zurückbezahlt. Die letzte Zahlung erfolgte 1888.

Die französische Regierung in der Person von Aussenminister Villepin wollte zuerst von der Forderung nichts wissen. Staatspräsident Chirac machte darauf anlässlich eines Interviews in Evian (G8-Gipfel) den "Fehler", von einem contentieux zwischen Frankreich und Haiti zu sprechen, was von haitianischer Seite sofort als Eingeständnis der Existenz einer zwischenstaatlichen Forderung interpretiert wurde. Da Haiti auch weiter Druck aufsetzte und die Forderung zur nationalen Kampagne mit Kundgebungen in den USA und vor der französischen Botschaft in Port-au-Prince machte, sah sich Frankreich gezwungen, eine Kommission unter Régis Debray einzusetzen, die zwar nach aussen immer behauptet, es gehe nicht um die Restitutionsforderung. Hinter den Kulissen ist es aber klar, dass genau diese das Thema ist.

Im Oktober 2003 besuchte darauf Régis Debray Haiti, und die haitianische Regierung liess an einer internationalen Konferenz am 14./15. Oktober sowohl den juristischen als auch den Medienaspekt der Restitutionsforderung untersuchen. Die Konferenz vom 19.-22. November war dann die zweite Phase dieses Prozesses.

Hans Fässler, Dezember 2003